von Arndt Peltner, Oakland
1911 – Dienstag, der 14. November: Genosse Schlender lud zu einer Gründungsveranstaltung des „Allgemeinen Arbeiterbildungvereins” in die Tiv Halle ein.
Das ist der erste Eintrag in die Protokollbücher des Arbeiterbildungsvereins San Francisco, dem einzigen überhaupt in den Vereinigten Staaten. Gegründet wurde er von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern, die Deutschland aus politischen Gründen verlassen, doch ihre politische Überzeugung nicht vergessen hatten. An der amerikanischen Westküste wollte man sich mit diesem Verein gegenseitig unterstützen, einen Raum für fachliche und politische Weiterbildung schaffen, aber auch durch kulturelle Veranstaltungen den Kontakt zur „alten Heimat“ nicht verlieren.
Orientierung waren die Arbeiterbildungsvereine, die bereits seit den 1830er Jahren im Deutschen Reich entstanden waren. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Situation für Sozialisten in Deutschland verschlimmert. Reichskanzler Bismarck nutzte 1878 zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm zum Erlass des Sozialistengesetzes. Viele Sozialdemokraten und Gewerkschaftsmitglieder verließen in den Folgejahren Deutschland. Sie glaubten an eine bessere Zukunft in Übersee. Für nicht wenige machte auch die Weigerung, in der kaiserlichen Armee zu dienen, die Auswanderung unumgänglich.
San Francisco war für viele das Ziel. Um die Jahrhunderwende war die nordkalifornische Metropole eine boomende Stadt mit Arbeitsmöglichkeiten in der produzierenden Industrie. Hinzu kamen das angenehme Klima und eine große deutsche Gemeinde mit vielfältigen kulturellen und sportlichen Angeboten, Gesangsvereinen und Hilfsorganisationen. Die Sozialdemokraten fanden hier am Pazifik schnell aufgrund ihrer „roten Wurzeln“ zusammen, sprachen sich mit „Genosse“ an, was auch die Protokollbücher des frisch gegründeten Arbeiterbildungsvereins übernommen haben. Die Mischung aus Kultur und Politik bescherte dem Verein viele Mitglieder. Eine 10.000 Bücher umfassende Bibliothek half der Weiterbildung, eine eigene Theatergruppe führte deutsche Schauspiele auf, der eigene Chor hatte allein rund 200 Mitglieder. Daneben wurden politische Schulungen und Sprachkurse angeboten. Während der Erste Weltkrieg in Europa tobte und die anti-deutsche Haltung in den USA zunahm, rückte man im Verein enger zusammen. Doch auch der Druck von außen verlangsamte den Mitgliederzuwachs nicht.
In den 1920er Jahren erreichte der Arbeiterbildungsverein San Francisco mit über 1000 Mitgliedern seinen Höhepunkt. Er half weiterhin Neuankömmlingen mit Weiterbildungsmöglichkeiten und in den Tagen der großen Depression organisierte der Verein sogar eine Küche für verarmte Mitglieder. All das unterstützte auf breiter Flur die Verwurzelung der Deutschen in der San Francisco Bay Area. Unzählige Ladeninhaber kamen als arme Immigranten an die amerikanische Westküste und arbeiteten sich nach oben. Man vergaß die Herkunft nicht. Spendensammlungen wurden organisiert, für streikende Arbeiter in der alten Heimat und für „die kommunistischen Kinder in Deutschland und Österreich“. Aus Deutschland reisten sogar Reichstagsabgeordnete an, um in der vereinseigenen Halle vor vollem Haus Reden über die sozialistische Bewegung zu geben.
Politisch war der Arbeiterbildungsverein offen für Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten. Als 1924 Lenin starb, wurde im Protokollbuch festgehalten, dass es eine Abstimmung darüber gab, ob man in der Tiv-Halle ein Portrait des sowjetischen Führers aufhängen sollte. Der Antrag wurde angenommen.
Verwurzelt in der proletarischen Tradition und mit einer starken Mitgliederzahl im Rücken war der Arbeiterbildungsverein San Francisco auch tatkräftig am Aufbau der Gewerkschaftsbewegung vor Ort beteiligt. Man organisierte die Arbeiter in den zahlreichen Produktionsstätten und im Hafenbereich.
Die Wende für den Arbeiterbildungsverein San Francisco kam mit der Machtübernahme Hitlers 1933. Es kam immer wieder zu heftigen Diskussionen. Einige wenige Mitglieder applaudierten dem starken Führer und betonten, Deutschland brauche genau so einen Mann in dieser schwierigen Zeit. Doch der Großteil der Vereinsmitglieder stand zu seinen „roten Wurzeln“ und verwies in den Diskussionen darauf, was in Deutschland mit Sozialdemokraten, Kommunisten und organisierten Arbeitervertretern passierte. Ein ideologischer Bruch ging durch die Reihen.
Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde es für die Deutschen in San Francisco schwieriger, offen aufzutreten. Nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor und dem Kriegseintritt der USA wuchs die ablehnende Haltung gegenüber allem Deutschen. Die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit wurde für die deutschen Vereine und Organisationen drastisch beschnitten. Der innere Unfrieden und der Druck von außen brachten den Arbeiterbildungsverein fast an seine Grenzen. Die Mitgliederzahl sank erheblich und man konzentrierte sich von nun an mehr auf ein gemütliches Beisammensein, als auf die ursprüngliche politische Ausrichtung.
Mit Kriegsende stand auch ein Neuanfang für den Verein an. Die Mitglieder sehnten sich nach Informationen, Redner wurden eingeladen, um über die Situation im zerbombten Deutschland zu sprechen. Im Oktober 1947 kam der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Kurt Schumacher, für ein Treffen der „American Federation of Labor (A.F.L.)“ nach San Francisco. Er besuchte dabei auch die Genossen des Arbeiterbildungsvereins, um über die schwierige Lage im Nachkriegsdeutschland zu berichten. Das Publikum, so ein Eintrag ins Protokollbuch, war begeistert, einen so hochrangigen Gastredner gewonnen zu haben. Als Dank für den Besuch übergaben sie Schumacher einen Scheck für die notleidende Bevölkerung in Deutschland. Das war auch als eine symbolische Geste gedacht, um zu zeigen, wie sehr man noch mit der alten Heimat verbunden blieb.
In den 1950er Jahren erlebte San Francisco eine neue Welle deutscher Immigranten, die froh waren, hier am Pazifik auf eine florierende deutsche Gemeinde mit Geschäften und Vereinen zu stoßen. Aufgrund von Erfahrungen in Nazi- und dem Nachkriegsdeutschland wollten sie sich nicht auf eine politische Organisation einlassen. Gefragt waren kulturelle Veranstaltungen, Tanzabende und Konversationsgruppen.
Die neue Führung des Arbeiterbildungsvereins war die erste, die nicht aus der starken Arbeiterbewegung der 1920er Jahre kam. Sie lud Redner ein, die eher über deutsche Schriftsteller wie Heinrich Heine als über die politische Bildung sprachen. Der langjährige Präsident des Arbeiterbildungsvereins, Karl Hartmann, der selbst 1953 von Hannover nach San Francisco gekommen war, fasste es vor versammelter Mitgliedschaft so zusammen: „Das Grundübel ist über Politik und Religion zu diskutieren. Jeder kann seine Meinung und seine Überzeugung haben, aber im Verein reden wir nicht mehr darüber.“
Die meisten Mitglieder folgten seinem Appell, der Verein erstarkte wieder. Er konzentrierte sich fortan auf die Bewahrung der deutschen Kultur und Sprache in der San Francisco Bay Area. So unterstützte er die Samstagsschulen, in denen Kinder von deutschen Immigranten ihre Muttersprache lernen sollten. Auf dem jährlichen Gala Dinner vergab der Arbeiterbildungsverein Stipendien für Deutschlernende an den Samstagsschulen und Universitäten der San Francisco Bay Area.
2011 feierte der Arbeiterbildungsverein seinen 100. Geburtstag, das letzte große Fest. Die meisten Mitglieder waren zu diesem Zeitpunkt 75 Jahre und älter. Auf einer Mitgliederliste aus den frühen 1990er Jahren sind bereits mit Handschrift viele Kreuze neben die Namen gesetzt worden. Die jungen Deutschen, die in den letzten Jahren hierher kamen, um an den Universitäten zu studieren, in den Hightech-Schmieden des Silicon Valleys zu arbeiten, zeigten kein Interesse an organisierten Vereinen.
Man trifft sich stattdessen online, organisiert Freizeitveranstaltungen über Facebook. Auch die Kinder der Mitglieder wollten die Traditionen der Eltern nicht mehr weitertragen. Sie haben Deutsch gelernt, ja, doch sich hier Partner aus dem Melting Pot Amerika gesucht. Selbst die Tochter des langjährigen Präsidenten Karl Hartmann hat einen Amerikaner mit chinesischen Wurzeln geheiratet, erzählte er im Gespräch. Lachend, doch auch etwas nachdenklich.
Jahr für Jahr verschwinden in den USA deutsche Vereine, Chöre, Organisationen, die so viel aus der alten Heimat mit in die USA brachten. Sie halfen mit ihren deutschen Wurzeln, die neue Heimat aufzubauen und zu gestalten. „Da sich unsere Mitgliederschaft in den letzten Jahren vermindert hat, mussten wir leider die Organisation in 2013 schliessen und den Verein am 31.12. 2013 aufloesen.“ Dieser Satz besiegelte das Ende des Arbeiterbildungsvereins. Doch wenn sich an der amerikanischen Westküste einmal ein Historiker mit der Arbeiterbewegung der 1920er Jahre beschäftigen wird, dann wird er am sozialdemokratischen Arbeiterbildungsverein und seinem Einfluss nicht vorbei kommen. Der Verein verschwindet, seine beeindruckende Geschichte wird jedoch bleiben.
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