von Heerke Hummel
Die Welt ist in Unordnung wie selten vorher, vielleicht wie nie zuvor. Und der Mensch ist das Problem. Seit hundert Jahren befindet sich die menschliche Gesellschaft in einer Dauerkrise und auf der Suche nach Lösungen für die Widersprüche, in die sie verstrickt ist. Dieser Zeitabschnitt wurde einst von den Ideologen des Ostens optimistisch als Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus bezeichnet. Doch vor einem Vierteljahrhundert ging dieser Optimismus vieler Millionen plötzlich verloren. Waren es Illusionen? Mit den Reformen des Ostens – allgemein als Untergang des Realsozialismus betrachtet – war die Welt ohne das Freund-Feind-Bild orientierungslos geworden, und Pessimismus überzog den Erdball angesichts nicht nur atomarer Gefahren und gesellschaftlicher Katastrophen, sondern auch und vor allem eines drohenden ökologischen Desasters unseres Planeten. Und nur allmählich wird die theoretische Schockstarre überwunden, entwickelt sich wieder analytisches Nachdenken über die Situation, in der sich die Welt befindet, und über Wege zur Wiederherstellung von Gleichgewichten in der Gesellschaft, in ihrer Ökonomie sowie zwischen Mensch und Natur allgemein.
Jüngstes Beispiel ist ein Buch von Raul Zelik und Elmar Altvater. Mehrere Wochen führten die beiden einen Dialog „über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft“, der bereits 2009 veröffentlicht wurde. Nun hat man ihn aktualisiert und – durch einen Abschnitt ergänzt beziehungsweise abgerundet – unter dem Titel „Vermessung der Utopie“ erneut als Taschenbuch herausgegeben.
Den Autoren geht es darum, Wege zu finden zu einer emanzipierten Gesellschaft. Und sie meinen, die gescheiterten Emanzipationsversuche in der Geschichte hätten gezeigt, wie es nicht geht. Nun werde eine Reflexion über utopische Entwürfe gebraucht, es müsse beantwortet werden können, inwieweit diese Entwürfe einigermaßen realistisch sind. Ob sie tauglich sind, sei daran zu messen, „ob sie den Menschen ein gutes Leben ermöglichen – in ökologischer, sozialer, politischer Hinsicht. Ob sie ermöglichen, die Grundbedürfnisse aller Menschen zu befriedigen, die Natur zu bewahren – aber auch, ob sie zu einer herrschaftsfreien Welt führen, in der die Menschen ihr Leben, auch ihr Arbeitsleben, selbst gestalten können und nicht nur Untertanen sind.“ Eine so formulierte Aufgabe gleicht dem Ei des Kolumbus. Vermochten die Autoren sie zu lösen?
Zelik und Altvater äußern sich zunächst zum Begriff „Ökonomie“, erörtern die Krise(n) und ihr Management, setzen sich mit dem gescheiterten Sozialismus auseinander und betrachten die kommende Gesellschaft, um schließlich die Transformation und ihre Subjekte zu behandeln. Der Leser erhält eine Menge Anregungen zum Mit- und Nachdenken, auch zum Widerspruch.
Im ersten Themenblock besprechen die Autoren den Wandel im gesellschaftlichen Verständnis von der Zielstellung ökonomischen Denkens und Handelns. Dabei kommen sie zu dem Schluss, dass es heute darum geht, Ziele und Inhalte des Wirtschaftens neu zu bestimmen. Dem ist unbedingt zuzustimmen! Aber muss das auch bedeuten, „sich von Zwängen – wie dem Zwang zum steten Wachstum, zur ewigen Akkumulation – zu befreien“? Wird die Menschheit je frei sein können von objektiven Erfordernissen, also ökonomischen Grenzen und Zwängen?
Eine kritische Bemerkung schon an dieser Stelle: Das Buch leidet in diesem Abschnitt an theoretischer Tiefe und Schärfe; auch was Feststellungen zum Markt und zur Marktwirtschaft betrifft. Und wenn dort von den realsozialistischen Gesellschaften die Rede ist, wird leider ganz utopisch vorausgesetzt, Walter Ulbricht mit seinem Zentralkomitee und andere kommunistische Führungen hätten sich den objektiven ökonomischen und politischen Zwängen des Kalten Krieges entziehen und eine Ökonomie „der reinen Vernunft“ organisieren können – wenn ihnen diese denn gegeben gewesen wäre.
Zwar kann sich ein Volk eine neue Regierung suchen, aber eine Regierung kein anderes Volk, wie es Bertolt Brecht nach dem 17. Juni 1953 ironisch empfahl. Und der heutige Irrsinn des Weltfinanzmarktes ist der Irrsinn der wirtschaftlich fortgeschrittensten Völker, denen die übrigen hinterhereifern (müssen?). Behandelt wird dieser Irrsinn im Abschnitt „Die Krise(n) und ihr Management“. Und da wird – man möchte es kaum glauben – beispielsweise die „materielle Interessiertheit“ von DDR-Wirtschaftsleitern gleichgesetzt mit dem Anreizsystem der Managergehälter. Viel eher wäre doch an dieser Stelle schon zu fragen gewesen, was das heutige Wirtschaftssystem überhaupt noch mit dem ursprünglichen Kapitalismus des vorigen Jahrhunderts zu tun hat und worin die Unterschiede bestehen, was da noch privat ist am Eigentum, was zu tun ist, um aus der Misere heraus zu kommen. Die Autoren setzen sich zwar ausführlich mit der krisenhaften weltwirtschaftlichen Entwicklung seit den 1970er Jahren auseinander und kommen zu dem Schluss, das „fordistische und keynesianische Wachstumsmodell“ sei damals „an systemische Grenzen“ geraten. Doch die Kündigung des Abkommens von Bretton Woods durch US-Präsident Richard Nixon erwähnen sie nicht einmal. Dabei hat sie das ökonomische System der westlichen Welt geradezu revolutioniert, weiter vergesellschaftet, indem mit der Aufhebung der Golddeckung des US-Dollars sich das Geld in ein allgemeines Arbeitszertifikat verwandelte, alle Bremsen und Grenzen des Finanzsektors verschwanden und mangels der neuen Situation entsprechender gesetzlicher Regeln der allgemeinen Spekulation Tür und Tor geöffnet wurden.
Raul Zelik stellt lediglich fest, in der damaligen Krisensituation „eröffnete der finanzgetriebene, neoliberal regulierte Kapitalismus ein neues Wachstumsfeld“. Dass es sich dabei gar nicht mehr um wirkliches Wirtschaftswachstum handelt oder handeln muss, geht unter. Denn nach der Arbeitswerttheorie von Karl Marx sinkt mit steigender Produktivität der Arbeitsaufwand des Produkts und damit sein Wert und Preis, so dass – bei sonst gleichen Bedingungen – Wert- und Preissumme der Warenwelt sowie die für ihre Zirkulation notwendige Geldmenge konstant bleiben. Heute dagegen charakterisieren eher steigende Preise und Geldmengen eine veränderte Art und Weise des Wirtschaftens und von ökonomischen Beziehungen in der Gesellschaft. Dieser Wandel ist bis heute von der Wirtschaftswissenschaft nicht theoretisch verarbeitet worden. Und so wird in Politik, Finanzsektor und Realwirtschaft in veralteten Modellvorstellungen gedacht und nach überholten Regeln gehandelt.
Zelik und Altvater wollen nicht „auf das Ende des Kapitalismus“ warten, nicht „den Kapitalismus heilen“. Ihre Hoffnungen richten sich auf radikaldemokratische Bewegungen wie in Lateinamerika. Das ist fragwürdig. Denn das unschöne Gesicht des Sozialismus im 20. Jahrhundert resultierte doch gerade daraus, dass mit dem großen Experiment in einem der rückständigsten Länder der Welt begonnen wurde, wobei die Erwartung sich nicht erfüllte, Westeuropa werde Russlands Beispiel folgen.
Die „kommende Gesellschaft“ erwartet Altvater als „eine regulierte Utopie“, und er glaubt, es gehe auch nicht anders, „als dass wir mit Regeln operieren. Einfach deshalb, weil die Natur mittlerweile eine Grenze darstellt.“ Man möchte hinzufügen: Und weil Märkte – vor allem der Finanzmarkt – und die Raffgier keine Grenzen kennen. So gesehen kommt es heute in der Hauptsache darauf an, die Regeln des Wirtschaftens, und solche gibt es bereits seit langem, zu ändern; zuerst und zumindest in Europa. In dieser Frage sind die Autoren allerdings sehr zögerlich. Zelik hält einen „globalen Ordnungsrahmen“ zum Beispiel auch für erforderlich, wenn es um Arbeitsrechte geht. Warum aber sollte sich sein „Gegenprojekt“ zur heutigen Wirtschaftsweise nicht in einem europäischen Alleingang verwirklichen lassen – wenn es denn in der EU den politischen Willen dazu gäbe? Denn Zeliks Meinung nach gilt es, „die Märkte zu begrenzen und zurückzudrängen, eine unmittelbare Demokratisierung von Gesellschaft und Arbeit einzuleiten, gesellschaftliche Kontrolle über Produktion, Verteilung, Konsum, Finanzmärkte zurückzuerlangen, eine Verschiebung hin zu gesellschaftlichem Eigentum in Gang zu setzen, eine ökologische Umgestaltung der Ökonomie zu erzwingen“. Warum sollte das nicht schon in Bälde möglich sein, wenn die Europäer mit Brüssel an der Spitze bereit wären, die entsprechenden Konsequenzen in Kauf zu nehmen? Vor allem bedarf es dazu der Macht, der „Gegen-Macht“. Zelik sagt es selbst.
Wünschenswert wäre gewesen, dass die Autoren ihre Überlegungen zur Rolle der Macht und des Staates auf die konkreten Verhältnisse in Europa bezogen hätten. Sie schreiben zwar, „dass sich selbst organisierende Prozesse mit bestimmten Regeln oder Rahmenbedingungen bessere Ergebnisse hervorbringen, als es eine Führung vermag“. Doch sie übersehen oder ignorieren, dass wir es heute bereits mit solchen selbst organisierenden Prozessen zu tun haben, deren veraltete Regeln „nur“ noch zu verändern sind. Der ein Jahrhundert währende Kampf zwischen „Kapitalismus“ und „Sozialismus“ hat die Gesellschaft, vor allem wohl ihre Theoretiker, blind gemacht für die konkreten Veränderungen, die sich in der realen Welt vollzogen haben, und unfähig, sie theoretisch zu verallgemeinern und zu verstehen.
Die „kommende Gesellschaft“ wird es trotzdem geben, mit oder ohne Utopien, Hoffnungen und Illusionen. Die Erfahrungen eines ganzen Jahrhunderts haben nämlich gezeigt, dass die Menschheit zwar lernfähig ist, doch kaum dank theoretischer Voraussicht das Richtige tut, sondern meist auf Grund unerträglicher Verhältnisse nur das unbedingt Notwendige unternimmt – im Kampf von Interessen und in kleinen Schritten.
Raul Zelik / Elmar Altvater: Vermessung der Utopie. Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft, Bertz + Fischer GbR, Berlin 2015, 237 Seiten. 9,90 Euro.
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