18. Jahrgang | Nummer 13 | 22. Juni 2015

Die Sendung der Philosophie

von Mathias Iven

Arnold Zweig, der in den Jahren 1912/13 in Rostock studiert hatte, schrieb in einem unveröffentlichten Nachruf über einen seiner früheren akademischen Lehrer: „Emil Utitz besaß ein echtes und lebendiges Verhältnis zu allen Phänomenen des Ästhetischen und der Kunst. Immer als Einzelwesen auftretend, das Ich den objektiven Gegebenheiten des Kunst- und Naturschönen gegenüberstellend, vermochte er alles das zu erklären, systematisch aneinanderzureihen und wissenschaftlich zu fundieren, was zum Gegenstand seines Forschens gehörte. […] Als ich Emil Utitz im Jahre 1948 in Prag wiedersah, begegnete ich einem mageren scharfzügigen, sehr still gewordenen Intellektuellen. Das tausendjährige Pestreich hatte ihn seiner jüdischen Abstammung wegen in das Hungerlager von Theresienstadt verpflanzt, dem er geistig ungebeugt standgehalten. Er berichtete mir von einem Buch über die Psychologie des Konzentrationslagers, das er verfaßt hatte, das ich aber nicht in die Hand bekam.“
Dass dieses, 1948 in Wien erschienene, nicht einmal 100 Seiten umfassende Buch – ergänzt um weitere Texte – nun endlich wieder lieferbar ist, verdanken wir dem in Heidelberg lehrenden Politikwissenschaftler und Philosophen Reinhard Mehring. Anliegen des von ihm jetzt vorgelegten, kenntnisreich eingeleiteten und umfangreich kommentierten Bandes ist es, nicht nur „eine vergessene Erfahrungsauslegung neu zugänglich [zu] machen“, sondern vor allem an die frühen Anfänge des Theresienstadt-Diskurses zu erinnern.
Zumeist wird der Beginn dieses Diskurses mit dem Erscheinen des in der heutigen Öffentlichkeit weitaus bekannteren Theresienstadt-Buches von H. G. Adler gleichgesetzt. Eine der ersten, sehr umfangreichen Besprechungen zu dem 1955 veröffentlichten Buch kam von Emil Utitz. Seine relativ scharfe Kritik bezog sich vor allem auf den „Großteil der außerordentlich umfassenden Abhandlungen zur Philosophie und Theologie“, die sich, so Utitz, durch eine „geistige und sittliche Überheblichkeit“ auszeichneten, die ihm „nicht geheuer“ war. Er hoffte, dass seine Zeilen den Verfasser „zur eingehenden Selbstkritik“ anregen würden. Im Vorwort zur „verbesserten und ergänzten“ zweiten Auflage wurde Utitz zwar nicht explizit erwähnt, gleichwohl hatte sich Adler dessen Wunsch zu Herzen genommen.
Die für den zweiten Teil des Buches zusammengestellten Texte geben einen Überblick zum philosophischen Ansatz des 1883 in einem Vorort von Prag geborenen Utitz, der nach Stationen in Rostock und Halle seit 1934 in Prag lehrte. Neben seinen Überlegungen zur allgemeinen Kunstwissenschaft beschäftigte ihn in seinen späten Jahren unter anderem der Begriff der Sittlichkeit. In einem zu Beginn der dreißiger Jahre veröffentlichten Artikel stellte er fest: „So wähnt sich auch der Mensch gehemmt, eingeschnürt, vergewaltigt durch das Reich fordernder Werte. Und doch wird er erst dadurch Mensch.“ 1937 formulierte er in einem in Paris gehaltenen Kongressbeitrag, dass Sittlichkeit immer möglich sei, „wenn auch mitunter nur um den Preis empfindlichster Opfer“. Und nur ein Jahr darauf hieß es in dem Aufsatz „Der Mensch angesichts des Todes“: Sittlichkeit ist nur im Bündnis mit dem Wissen möglich, „aber wohl gemerkt nicht allein durch das Wissen. Es bedarf der gesamten Persönlichkeit.“
Im Ganzen betrachtet, so Merkel, sollen die Texte schließlich auch Utitz’ spezifisch „autobiographisch pointierte philosophiegeschichtliche Sicht einer böhmischen Schule der ,Brentanisten‘ dokumentieren“. Interessant sind in diesem Zusammenhang zwei mit einem zeitlichen Abstand von anderthalb Jahrzehnten entstandene Beiträge, die sich konkret mit dem Werk Franz Brentanos befassen. In den 1954, zwei Jahre vor seinem Tod, veröffentlichten Erinnerungen verglich Utitz sein persönliches und berufliches Schicksal mit dem von Brentano. Dass er die drei Jahre in Theresienstadt „halbwegs würdig und ungebrochen“ überstanden hatte, dafür fühlte er sich „ihm zutiefst verpflichtet“. „Stets“, so betonte er, „schwebte mir sein hohes Vorbild vor, die Erprobung der Philosophie durch das eigene Sein.“
Prag war für Utitz, wie er 1947 schrieb, „ein europäischer Brennpunkt, in dem sich die verschiedensten Einflüsse begegneten und kreuzten“. Entsprechend versammelt der abschließende dritte Teil von Mehrings Auswahl Texte, in denen Utitz vorrangig auf seine frühen, in Prag verbrachten Jahre zurückschaute. Ein Auszug aus seiner 1956 im Aufbau-Verlag erschienenen Biographie „Egon Erwin Kisch, der klassische Journalist“ vermittelt dabei einen exemplarischen Einblick in die Prager Literaturlandschaft um 1900, zu der auch der damals noch unbekannte Franz Kafka gehörte, der seine Ausbildung in „der insularen Geschlossenheit“ des am Altstädter Ring gelegenen Staatsgymnasiums erhielt. Von der gemeinsam mit Kafka verbrachten Schulzeit ließ sich für Utitz eine Parallele zu Ernst Barlach ziehen, den er während seiner Jahre an der Universität Rostock kennengelernt hatte. Er charakterisierte beide als unauffällig und unscheinbar, ganz ihrem Werk ergeben, wobei Kafka ihm als eine Art Gast in Erinnerung blieb, „der die ungewohnte Umgebung mit Interesse wahrnimmt, verständnisvoll über sie lacht, aber sich doch von ihr distanziert“.
Der Band schließt mit der Einleitung zu Mandevilles „Bienenfabel“. In dem kurz nach dem Tod von Utitz in der Philosophischen Bücherei des Aufbau-Verlages veröffentlichten Text – den Mehring als eine „bittere Parabel auf den Sozialismus“ liest – fand sich unter anderem der prophetische Satz: „Die Suche nach der besten Religion hat mehr Unheil gestiftet als alle anderen Fragen zusammen.“
Welchen Stellenwert man den theoretischen Überlegungen von Utitz heute noch zugestehen möchte, sei dahingestellt. So hat Mehring bereits im Jahre 2003 in einem Beitrag in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie ganz sachlich festgestellt: „Die heutige ethische Diskussion braucht Utitz nicht.“ Doch zugleich entscheidet nach Mehring in diesem Fall ein anderes Kriterium darüber, dass wir einen Denker wie Emil Utitz nicht vergessen sollten: „Die Philosophiegeschichte aber hat gute Gründe, sich seiner als eines respektablen Universitätsphilosophen zu erinnern, der die ,Sendung‘ der Philosophie auch in extremer Lage exemplarisch vertrat.“

Reinhard Mehring (Hrsg.): Ethik nach Theresienstadt. Späte Texte des Prager Philosophen Emil Utitz (1883–1956), Königshausen & Neumann, Würzburg 2015, 216 Seiten, 48 Euro.