18. Jahrgang | Nummer 10 | 11. Mai 2015

Istanbul – Berlin

von Ulrike Steglich

Ankunft

Planen Sie als Berliner etwas mehr Zeit für Ihre Flugankunft in Istanbul ein. Dort sind die beiden städtischen Flughäfen – nun ja – etwas größer als Alt-Schönefeld und Tegel, und es kommen auch ein paar mehr Flugzeuge und Passagiere an. Da die Türkei bislang nicht in die EU aufgenommen wurde, dauern Pass- und sonstige Kontrollen etwas länger.
Sie müssen nach der Ankunft aber nicht wie in Schönefeld ihr Gepäck endlose Strecken zu einem Regionalzug schleppen, der irgendwann alle halbe Stunde fährt, oder zur S-Bahn, die gemütlich alle Stationen zwischen Schönefeld und Innenstadt abzockelt. (Bitte an das tricky ABC-Ticket denken! Die Zone C gilt zwar nur zwischen Endstation Schönefeld und der vorletzten Station – aber genau deshalb sind dort besonders viele Kontrolleure unterwegs.)
An den Istanbuler Flughäfen halten die Busse zur Innenstadt direkt vor dem Flughafen. Sobald ein Bus voll ist, fährt er los – also ungefähr alle zwei Minuten. Sollten Sie pubertierende, ewig hungrige Söhne haben, die ernsthafte Existenzängste befallen, ob man in Istanbul auch nach 22.00 Uhr noch etwas zu essen oder einzukaufen findet, grinsen Sie einfach still in sich hinein. Der Vermieter wird die Sprösslinge sofort in den nächsten Imbiss schleppen, dort mit lecker gegrillten Fleischspießen vollstopfen und dazu erklären, dass der Tante-Emma-Laden um die Ecke (einer von dreien in 50 Meter Entfernung, in denen es so ziemlich alles gibt) 24 Stunden nonstop geöffnet ist.

Aufwachen

Sie brauchen in Istanbul keinen Wecker. Suchen Sie sich einfach ein Quartier mit einer Moschee gleich um die Ecke. Frühaufsteher weckt der Muezzin bei Sonnenaufgang, Langschläfer gegen ein Uhr mittags. Ein schöner Wecker ist auch der herrliche Duft aus der Bäckerei nebenan.
Manchmal ist es aber auch eine Baustelle, wie in Berlin. Nur dass die Berliner Baustellen nicht sieben Tage die Woche fast rund um die Uhr arbeiten. Vor allem nicht die bei der Straßenbahn oder sonstigen Baustellen der öffentlichen Hand.

Stadtlandschaft

Schätzungsweise 15 Millionen Menschen leben in Istanbul. Ein schier endloses Häusermeer erstreckt sich links und rechts des Bosporus, auf der europäischen und der asiatischen Seite. Unterschiedlichste Welten existieren unmittelbar nebeneinander: einfache Wohnviertel mit notdürftig geflickten alten Wohnhäusern oder Abrisshäusern; schicke Flaniermeilen; alte, orientalisch geprägte Straßen, in denen sich Basar an Basar reiht; die Skyline mit den Türmen des Wirtschaftszentrums; Trabantenstädte mit dicht an dicht gereihten Hochhäusern. Das berühmte Altbauviertel Beyoğlu ist übrigens ein Partnerbezirk von Berlin-Mitte. Zu den Berliner Bebauungsdebatten (Traufhöhe! Dichte! Freiflächen! Frischluftschneisen!) würde man in Istanbul einfach nur höflich, aber etwas verständnislos lächeln. In Istanbul wird ununterbrochen gebaut – schließlich müssen die Menschen, die stetig in die prosperierende Metropole strömen, auch irgendwo unterkommen.
Hochhäuser, überhaupt irgendwelche Neubauten, sind dagegen in Berlin sehr verpönt, vor allem gleich neben der eigenen Haustür. Nicht erst seit dem Tempelhofer Feld ist das Argument der „Frischluftschneisen“ sehr beliebt. Deutsche lieben auch in die Breite gestreute Eigenheime, Baugruppenprojekte und Doppelhaushälften in Frischluftschneisen, außerdem Biotope und Grünflächen, möglichst wildwüchsig. Dafür ketten sich manche Öko-Beflissene auch gern mal an Bäume. – Wer über Berlin fliegt, sieht einen Flickenteppich mit unglaublich viel Grün, Wald, Parks, Schrebergärten, Wasser und einen Potsdamer Platz, der aussieht wie ein abgesägtes Möchtegern-Manhattan im Lego-Format. Wer Istanbul überfliegt, sieht das Meer, die Inseln, das Häusermeer. Eine Metropole.

Parks und Freiflächen

Tempelhof-Areale mit hektargroßer, verbrannter Wiese kann man sich in Istanbul eher schwer vorstellen. Es gibt nicht viele Parks in Istanbul – aber das Grün im öffentlichen Raum ist sehr gepflegt, selbst die kunstvoll blumenbepflanzten Baumstreifen entlang vielbefahrener Hauptstraßen. Dafür genießen die Parks auch besondere Bedeutung. Hier geht man spazieren, toben Kinder auf bemerkenswert ausgestatteten Spielplätzen, gibt es Cafés, öffentliche Toiletten und auch kleine Hundeauslaufflächen. Als der beliebte Gezi-Park nach dem Willen des türkischen Staatschefs Erdogan einem Shoppingcenter weichen sollte, protestierten 2013 viele Istanbuler auf dem benachbarten Taksim-Platz. Darüber formulierte sich vor allem auch Protest gegen ein politisches System.

The Sound of Istanbul

Kommen Sie nicht auf die verrückte Idee, in Istanbul Auto fahren zu wollen – jedenfalls nicht als Berliner. Istanbuler erklären, dass es grundsätzlich nur eine wichtige Verkehrsregel gibt: An einer roten Ampel muss man halten – aber auch nur dann, wenn sie nicht als überflüssige Schmuckampel erachtet wird. Da sich jeder Istanbuler unerschrocken in sein Auto stürzt und damit viele Staus verursacht, ist das permanente, lustvolle Hupen auf den Straßen sozusagen der „Sound of Istanbul“. Man weiß zwar nicht, warum gehupt wird, weil es das Weiterkommen auch nicht befördert – aber für Fußgänger sind die Staus die beste Verkehrsberuhigung überhaupt. Auch wenn Ihre Fußgängerampel rot zeigt (manche Ampeln zeigen sogar die Sekunden bis zur nächsten Grünphase an): Entdecken Sie den verschütteten anarchischen Geist in sich und stürzen Sie sich getrost mit den Istanbulern ins Getümmel, wenn die Autos mal wieder im Stau stecken. Es ist die sicherste Methode, ans andere Straßenufer zu kommen. Notfalls wird gehupt – extra für Sie. Istanbuler Straßen sind vorwiegend gelb (durch die Unmengen von Taxis) und blau (Unmengen von Linienbussen). Grundsätzlich ist bemerkenswert, wie stressfrei sich die unzähligen Verkehrsteilnehmer arrangieren. Liegt vielleicht am entspannenden Hupen.

Service

Stellen Sie sich vor, Sie säßen etwa in der Regionalbahn nach Frankfurt/Oder (falls die GDL nicht gerade mal wieder streikt) und haben für die Fahrt nicht mal drei Euro bezahlt. Ein Angestellter kommt vorbei und bietet heißen Tee an. Richtigen Tee. Knapp 30 Cent. Wiederholt. Als Berliner lachen Sie jetzt. Istanbuler Fähren, die Strecken entlang des Bosporus fahren, kriegen das hin. Ohne Streik, ganz regulär. Pünktlich. Der großartige Ausblick auf die Istanbuler Stadt links und rechts des Bosporus ist sowieso gratis.

Öffentlicher Nahverkehr

Vergessen Sie alle verwirrenden Berliner AB-, ABC- oder BC-Tarife, Ermäßigungs-, Gruppen-, Schüler-, Tageskartentarife, kaputte Fahrkartenautomaten, Abstempelautomaten und was das schöne Berliner Verkehrssystem noch an Chaosstiftendem zu bieten hat. Kaufen Sie sich in Istanbul einfach an Verkehrsstationen, am nächsten Obst- oder Zeitungsladen eine Istanbul-Card: eine Chipkarte, die in unterschiedlichem Geldwert aufgeladen wird. An der Metro, der Straßenbahn, dem Bus, auf den Fährschiffen, die quasi als Wasserbusse über das Goldene Horn und den Bosporus ihre Linien fahren, halten Sie einfach die Chipkarte an die Eingangssperre – der Fahrpreis ( umgerechnet zirka 80 Cent) wird automatisch abgebucht. Ist die Karte leer, wird sie an Automaten nach Belieben wieder mit Guthaben aufgeladen. Unkomplizierter, nerven- und kostensparender geht’s nicht. Kontrolleure braucht dieses System auch nicht. Kein Ärger über verpasste Bahnen, weil der Automat mal wieder endlos den Fahrschein druckt oder partout passende Münzen fordert.
Die Istanbul-Card dient übrigens auch zum Eintritt in manche öffentliche (und bemerkenswert saubere) Toiletten. Davon gibt es erstaunlich viele, auch kostenlos in Moscheen. Ein Zustand, von dem viele Berliner unterwegs (beispielsweise in Parks oder auf Spielplätzen) nur träumen.

Geschäftsstraßen

Sie beschweren sich darüber, dass der Weddinger oder Moabiter Bolu-Markt bei Ihnen um die Ecke mit seinen Obst- und Gemüseauslagen etwa die Hälfte des zirka drei Meter breiten Bürgersteigs beansprucht?
Reisen Sie nach Istanbul – das entspannt. Dort sind die Bürgersteige in den Altstadtstraßen oft nur 70 Zentimeter breit, und trotzdem funktioniert alles: Geschäftsbetrieb, Fußgänger, Lieferverkehr. Hier geht alles: Gleich zwei Lieferfahrzeuge quetschen sich in engen Gassen aneinander vorbei (dahinter entsteht wieder der fußgängerfreundliche, hupende Stau), während ein Ladeninhaber, der gerade Pakete auspackt, mal kurz seinen Hintern einziehen muss, damit die dicken Autos aneinander vorbeikommen. „Lieferzonen“, auch ein schönes deutsches Wort, gibt es hier nicht. Fußgänger weichen oft flexibel von klitzekleinen Bürgersteigen auf die kleinen Straßen aus. Wenn ein Lieferwagen oder Reinigungsfahrzeug sich durch eine Fußgängerzone quält, ist das gar kein Problem – der stetige Fußgängerstrom macht sekundenlang Platz, und schon geht der Betrieb weiter. Das Geheimrezept ist die freundliche Eleganz und Toleranz, mit der die Istanbuler miteinander umgehen.

Handel

Stellen Sie sich vor, Sie stehen in Berlin plötzlich mitten im strömenden Regen und haben keinen Schirm dabei. Um Sie herum tauchen aber wie aus dem Nichts fliegende Verkäufer auf, die Ihnen Regenschirme anbieten. Das ist jahrhundertealte, orientalische, klassische Marktwirtschaft mit Nachfrage und Angebot – entwickelt, noch bevor Ludwig Erhard oder Angela Merkel überhaupt geboren waren.
Haben Sie sich schon mal über die verstopften Gehwege in Berlin beschwert? An einem durchschnittlichen Mittwoch in Istanbuler Basarvierteln muss man sich schon ziemlich durchschlängeln. An Samstagen allerdings traut man sich in das Getümmel kaum noch hinein: dann sind die Straßen so voll, dass man sich fragt, wie man sich dort überhaupt bewegen, geschweige denn einkaufen kann. Es gibt lange Gassen, in denen nur Kopftücher verkauft werden, oder Männerschuhe, oder nur Fernbedienungen. Dass Sie sich auf einem Basar befinden, merken Sie erst, wenn Sie dort sind. Wenn sich beispielsweise in einer Ladenzeile ein Fischhändler an den anderen reiht, die frische Fische mit rotglänzenden Kiemen anpreisen, imposante Rochen, kleine Sardinen und Riesenfische, perfekt dekoriert. Und gleich nebenan die Fische braten.

Tiere

Vielleicht gibt es deshalb– neben zahllosen Möwen – auch so viele Katzen in Istanbul. Sie sehen immer gut gepflegt aus, schlafen entspannt auf Treppenstufen, Verkaufswaren, Mofas, bevölkern jeden Park, es gibt Futterautomaten und Katzenhäuschen. Katzen scheinen in Istanbul einen wichtigen Status zu genießen. Selbst in der Hagia Sophia liegt träge eine und erträgt die Touristen-Kameras mit einem Blick, der eindeutig klarstellt: Uns gibt es schon seit über tausend Jahren an diesem Ort. – Könnte sich jemand einen deutschen Dackel auf den Stufen des Pergamonaltars vorstellen?

Zurück in Berlin fragt man sich: Warum ist hier alles so still, langweilig, leer? Warum braucht man so lange ins Zentrum? Und fährt die Bahn überhaupt, oder streikt die GDL mal wieder?