von Sem Pflaumenfeld
Es soll noch Zeitungen geben, denen liegt das Wohl der Gemeinschaft am Herzen. Sie bemühen sich redlich, von den großen Schweinereien zu berichten und stellvertretend für den gesunden Volkszorn Empörung zwischen die Seiten zu gießen. Eines der Druckerzeugnisse mit den handlich kurzen Texten machte sich Sorgen, dass die Revolution unsere Schlafzimmer erreicht hätte. Nun machte sich besagte Berliner Postille eher Gedanken, ob nicht einmal mehr Matratzen von den Maschinenstürmereien der Linken verschont blieben.
Von meinem Schreibplatz bei Kaffee und Brownie schaue ich auf eine angekokelte Hausecke. Im Friedrichshain brannte Ende April ein Matratzengeschäft aus. Zurzeit ist das erste Obergeschoss nicht bewohnbar, und die schwarze Häuserfront sticht zwischen den geputzten Schönheiten einer gentrifizierten Warschauer Straße heraus. Andererseits fällt sie bei den Baustellen nicht so sehr auf, wie sie es woanders in der Hauptstadt tun würde.
Die Berichterstattung zu dem Brand, der in der Nacht zum 30. April ausbrach, hält sich mit Vermutungen zur Ursache zurück. Ein Großeinsatz der Feuerwehr war nötig; und so wie die Fassade zwei Wochen später noch immer aussieht, ist das Geschäft im Erdgeschoss ruiniert. Die B.Z. fragte sich besorgt, ob der Brand im Zusammenhang mit den Ausschreitungen des 1. Mais stehe. Ob sich die als gefährlich eingestuften Autonomen im Datum oder im Ziel des Angriffs geirrt hätten, war diesem Medium leider nicht zu entnehmen. Es soll Brandstiftung gewesen sein, habe ich gelesen. Was revolutionär zu gewinnen gewesen wäre, unsere Liegeflächen abzufackeln, will mir nicht einleuchten. Aber wie ein Wetterwechsel hat auch der 1. Mai seine Vorboten, und brennende Matratzengeschäfte sind die ersten Anzeichen für einen Sturm. Vielleicht hätte ich den Wetterbericht jenes Blattes auch noch lesen sollen.
Nun ist das Erdgeschoss verbarrikadiert, Teile der Verkleidung wiegen sanft im Wind, der den Geruch von Regen trägt. Die Spanblatten vor den Fenstern sind mit Postern beklebt, die in Berlin schnell jede freie Fläche einnehmen. Im wechselnden Wetter dieses Sonnabends treten nacheinander junge Männer heran und nutzen das schmutzig gelbe Mauerwerk als Litfaßsäule. Wichtige Ereignisse werden angeschlagen. Der 1. Mai ist vorbei, der 8. folgt stets auf dem Fuße.
Wir machen Geschichte, indem wir sie vergessen. Meine Ecke ist die ehemalige Johannes-R.-Becher-Buchhandlung. Ich sitze vor der Belletristik, die hier profan „fiction“ heißt, da es sich um einen englischen Buchladen handelt. Die Gäste sind so jung wie die Frauen hinter der Theke. Es gibt Bagel, denn es ist ein jüdisches Café mit Büchergalerie. Dessen Name – „Shakespeare & Sons“ – kommt aus Prag, da dort bereits vor zwanzig Jahren eine Buchhandlung für Exilamerikaner aufmachte. Der Barde auf den dortigen Packpapiertüten sieht aus wie DJ Bobo. Das Geschäft lebt in der tschechischen Hauptstadt vor allem von Emigranten und Touristen und hat seine großen Zeiten hinter sich. Ich hatte vor zwei Jahren das Unglück, bei einem Milchkaffee einem jungen Mann dabei zuhören zu müssen, wie er seinem Date erklärte, dass Homosexuelle doch bitte ihren Lebensstil nicht in der Öffentlichkeit zeigen sollten. Die Argumentation war so bekannt wie ärgerlich: Privat ist alles okay für ihn, aber bitte nicht vor seinen Augen. Das war ausgerechnet in demselben Monat, in dem die Prag Pride Parade stattfinden sollte. Der Buchladen ist in seinen hinteren Räumen eine Bar, die am Abend mit englischsprechenden und biertrinkenden Menschen besiedelt wird. Nun gibt es ein weiteres kleines Geschwisterchen gleichen Namens in Berlin. Damit sind es zwei, denn ein Laden mit mehr Büchern und weniger Platz befindet sich bereits im Prenzlauer Berg.
Anschluss wollen sie finden an die Geschichte. US-Amerikaner, vor allem jedoch Amerikanerinnen, fanden eine Heimat im Zwischenkriegsparis. Frauen, die Frauen liebten, wollten lieber in Frankreich schreiben und leben. In der Erinnerung der Literaturwissenschaft ist der ebenso Frauen, mehr jedoch Alkohol liebende Hemingway geblieben. Gertrud Stein fiele noch ein, die mit ihrer Partnerin junge Talente unterstützte und sich von Paris inspirieren ließ. Ihre Worte über eine verlorene Generation „lost generation“ sind je nach Quelle berühmter als ihre Gedichte. Die schreibenden Frauen finden erst langsam in den Kanon zurück. Inmitten dieser Frauen arbeitete Sylvia Beach (1887-1962) in ihrem Buchladen „Shakespeare & Company“ (1919-1941). Der bot einen Ort der Zusammenkunft und der Öffentlichkeit. Durch sie kamen die Schriftsteller zu ihren Verlegerinnen. James Joyce und Ernest Hemingway vergaßen dann auch recht schnell, wer sie vor ihrem Ruhm kannte und förderte. Andrea Weiss schrieb in „Paris war eine Frau: Die Frauen von der Left-Bank“ (1998) über die frauenliebenden Künstlerinnen, die das Flair an der Seine für sich entdeckten. Eines der Ergebnisse, „Nachtgewächs“ (Nightwood, 1936) von Djuna Barnes (1892-1982), erzählt die verwirrende Wildheit einer Stadt, in der sich US-Amerikanerinnen sexuell und emotional verloren. Ich habe mich in der bildreichen Sprache verfangen; auch beim zweiten Lesen weiß ich noch immer nicht, ob ich die Stadt wiedererkenne und die Menschen jemals treffen wollen würde.
Die Cafés mit Shakespeare in ihren Namen mögen sich in der Tradition einer verlorenen Generation sehen, wenn sie Schreibenden wie mir einen Ort und einen Kaffee geben. Doch sind wir keine Gemeinschaft, die der Wunsch nach sexuellen und literarischen Freiheiten antriebe. Wir kennen uns nicht, wenn wir auf unsere Tastaturen starren. Und dabei hilft auch kein Verbot von Computern, das einer antiquierten Technologieablehnung gleichkäme. Wenn Menschen nichts zu sagen haben, tun sie das mit und ohne technische Hilfsmittel. Wenn wir auf unsere Bildschirme starren, belästigen wir uns wenigstens nicht mit dem Müll, den wir sonst am Tag von uns geben. Ich schreibe hier nur, meine politische Heimat habe ich noch nicht wiedergefunden.
Mittlerweile hat der dritte Mann innerhalb einer Stunde die Poster überklebt. Das Verfallsdatum von Postern ist an der ausgebrannten Fassade bemerkenswert kurz. Wirken können Ideen nur im Unbewussten. Die Werbung auf der Straße hat die der im Fernsehen erreicht. Nur Ideen nehmen sich den öffentlichen Raum, fragen nicht nach Sendeplätzen zwischen ein bisschen Programm, für das sowieso kaum noch Gehirnenergie übrig ist.
Enthüllungsjournalismus nimmt in den Händen bestimmter Printerzeugnisse eine ganz neue Form an. Die Bild-Zeitung gab Christian Wulff ihrem Publikum preis, als sie etwas öffentlich machte, in dem sie selbst verwickelt war. Das war eher eine Offenlegung. Ansonsten wird nichts enthüllt, was nicht sowieso schon bekannt wäre. Darum ist nicht davon auszugehen, dass die B.Z. einem großen Thema auf der Spur war. Dass die als großes Kollektiv mit einem Gehirn gedachten Linken ein Matratzengeschäft abbrennen, um die Häuserwand für ihre Plakate benutzen zu können, wäre wohl auch einer inhaltlich dünnen Zeitung zu abwegig.
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