18. Jahrgang | Nummer 11 | 25. Mai 2015

Gong, Wüstenwind und Blähungen

von Frank-Rainer Schurich

Wirkungen können erfreulich, eindrucksvoll, rührend, erheiternd, trügerisch, berechenbar, erstaunlich, revolutionär, nebensächlich und billig sein. Von den Wirkungen haben wir im Laufe der Jahrhunderte gelernt, dass sie eine Ursache haben. Oder auch mehrere. Bei der Einnahme eines Giftes zum Beispiel stellen sich oft als Wirkung das Erbrechen, die Bewusstlosigkeit oder der Tod ein. „Vor der Wirkung glaubt man an andere Ursachen als nach der Wirkung”, hatte aber schon Friedrich Nietzsche philosophiert.
Der Mensch, der angeberisch nur auf äußerliche Wirkung und Bewunderung durch die anderen setzt, ist ein Protz. Seit dem 16. Jahrhundert ist uns diese bayerische Sprachschöpfung Protz = Kröte bekannt, was eigentlich nur für „aufgebläht“ stehen sollte. Ab dem 19. Jahrhundert war der Protz dann in den deutschen Landen im Sinne eines aufgeblasenen Emporkömmlings, Wichtigtuers oder Angebers im Gebrauch. Und weil die Protze immer mehr Gestalt annahmen und sich wie eine Epidemie massenhaft vermehrten, gab es alsbald auch das dazugehörige Verb: protzen. Und natürlich ein Adjektiv, und seit dieser Zeit kennen wir Menschen, die sich protzige Häuser bauen oder protzige Autos fahren, also immer auf Wirkung aus sind.
Manche Politiker setzen äußerst volkstümelnd auf eine angekündigte Wirkung, die die Massen an die Wahlurnen drängen soll, um gerade diesen einen Politiker oder diese eine Partei zu wählen. Sie versprechen das Blaue vom Himmel, und nach der Wahl ist es wie nach einem Raub in der Administration einfach nicht mehr auffindbar.
Der britische Autor Steve Aylett schreibt in seiner Geschichte „Dogger“, dass eben dieser Dogger „eine Methode gefunden hätte, die innere Natur einer aufgezeichneten Sprachäußerung zu enthüllen. Einige Äußerungen erzeugen den zenartigen Klang eines Gongs. Andere – besonders jugendliche Sprecher – das Heulen eines Wüstenwindes. Politiker, egal ob nun hü oder hott, erzeugten fast immer Blähungen.” Derartige Geräusche und Gerüche sind nun aber im Politikbetrieb wirklich nicht erwünscht!
Auch in der Kommunikation muss man sich oft rechtfertigen, wenn man die Wirkung der Rede nicht richtig abwägt und sich entschuldigen muss: „Ja, das war aber nicht so gemeint …“ Solche „Missverständnisse“, also nicht bedachte Wirkungen, sind im normalen Leben ziemlich leicht zu reparieren. Der weltberühmte Gerichtsmediziner Otto Prokop hatte 1966 in seinem Lehrbuch „Forensische Medizin“ über einen bemerkenswerten und tragischen Fall berichtet, dessen Wirkungen und Folgen dagegen irreparabel waren:
„Bei einer Begrüßungsszene hob ein Onkel seinen einige Jahre alten Neffen mit beiden Händen an beiden Seiten des Unterkiefers in die Höhe und küsste ihn. Nach Abstellen des Kindes auf den Boden bemerkte er, dass es tot war. Als er der trauernden Familie am Bruder des Verstorbenen zeigte, in welcher Weise er das Kind emporgehoben habe, starb auch das andere Kind.“
Tod durch Karotissinusreflex, durch einen Reflex der Kopfschlagader, diagnostizierte der Gerichtsmediziner. Die Lebenshilfe, die in diesem Artikel steckt, besteht folglich in dem Rat, Kinder niemals auf diese Art und Weise in die Luft zu heben.
Kleine Ursache, große Wirkung – das ist die Überschrift vieler Geschichten, die nicht so tragisch enden, aber in denen zuweilen große Schäden entstehen.
Ein ungeschickter Matrose, so wurde anno 2012 vermeldet, war offenbar für die Havarie eines französischen Passagierschiffs auf dem Rhein bei Lorch verantwortlich. Wie die Wasserschutzpolizei mitteilte, hatte das Besatzungsmitglied den Unfall beim Entsorgen einer defekten Sonnenliege verursacht. Als er sie verstauen wollte, habe er aus Versehen den Hauptschalter für die Spritzufuhr berührt und so dem Schiff den Treibstoff abgedreht. Dadurch fiel kurze Zeit später der Motor der „Douce France“ aus, und das Passagierschiff lief auf Grund. Dabei wurde aber niemand verletzt.
Einen „Volltreffer“ erzielte ein Polizeibeamter, als er auf zwei Einbrecher im 21. Wiener Gemeindebezirk Floridsdorf einen Warnschuss abgab. Schlagartig wurde es im gesamten Ortsteil finster. Der Schuss hatte die Oberleitung der Straßenbeleuchtung getroffen. Das war im Januar 1980, und diese negative Wirkung ist bestimmt schnell beseitigt worden.
Manchmal lassen sich aber Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nicht mehr restlos aufklären. Im Verbundjournal, das vom auch international sehr erfolgreichen Forschungsverbund Berlin e. V. herausgegeben wird, stand im Septemberheft 2012 eine unglaubliche, fast kriminelle Geschichte, zu der die Pressesprecherin Gesine Wiemer noch die entscheidenden Details mitteilte.
Eine seltsame Metallhülse wurde im Landkreis Peine in Niedersachsen in einer stillgelegten Kiesgrube gefunden – in einem grünen Bauwagen mit der Aufschrift „Terra Mix“. Am 17. Juli 2003 gab es dort Bombenalarm; Polizei und Feuerwehr bargen vorsichtig das Objekt. Als Röntgenuntersuchung und Endoskopie ergebnislos blieben, wurde der Fund aufgehebelt. Zu Tage kamen unter anderem Baupläne, ein Probenröhrchen mit Proteinlösung und der FMP-Jahresbericht 1996/1997. Und es stellte sich heraus, dass das eigentlich die 1998 feierlich in Berlin-Buch versenkte Grundsteinhülse des Leibniz-Instituts für Molekulare Pharmakologie war (FMP). Wie sie nach Peine gelangt ist, wird wohl immer ein ungelöstes Rätsel bleiben.
Laut Eintrag in das Bautagebuch der Firma Hein vom 20. November 1998 wurde der „Grundstein im Eingangsbereich (des FMP) Achse 10-11/H einbetoniert“! Wegen nachträglicher Änderungen in der Architektur entfernte man später Teile des Fundaments. Mit der Entsorgung des anfallenden Schutts wurde eine Firma namens „Terra Mix“ beauftragt. Über das Schicksal des Grundsteins kann man jedoch von „Terra Mix“ nichts mehr erfahren, denn die Firma ist pleite.
Am 21. August 2003 kehrte die Grundsteinhülse an ihren Bestimmungsort zurück.
Es sieht fast so aus, als ob die Firma „Terra Mix“ die Ursache für die Grundsteinhülsenwanderung ist. Aber Genaueres wissen wir nicht, wie es oft bei zeitlichen Abfolgen zu sein scheint. Der US-amerikanische Schriftsteller Ambrose Bierce hat in seiner Erzählung „Stärker als Moxon“ das Kausalitätsdebakel blendend umschrieben: „Wie Mill ausführt, wissen wir über die Ursache weiter nichts, als dass sie etwas Vorausgehendes ist, und von der Wirkung nichts anderes, als dass sie eine Folge ist. Bei gewissen ungleichartigen Erscheinungen tritt eine nie ohne die andere auf: Auf die Zeit bezogen, nennen wir das erste Ursache, das zweite Wirkung. Jemand, der oft ein vom Hund verfolgtes Kaninchen gesehen hat, niemals aber Kaninchen und Hunde in anderer Bezogenheit sah, denkt, das Kaninchen sei die Ursache des Hundes.”