von Reinhard Wengierek
Alle Welt weiß von Wittenberg. Wer aber weiß von Torgau? Es gilt, sagt die Wissenschaft, als „Amme und Wiege der Reformation“. Es sei, meinen die Stadtväter, die „schönste Renaissancestadt Deutschlands“. Und sie haben nicht übertrieben. Denn wahrlich, der glanzvolle Kern der einst – bevor Dresden es wurde – kurfürstlich-sächsischen Residenz strahlt frisch restauriert. Ihr ganzer Prunk kam nahezu unbeschädigt durch die Zeitläufte, weil: Am Vormittag des 25. April 1945 trafen sich hier, am Ufer der Elbe, die Rotarmisten der 58. Gardeschützendivision und die Soldaten der 69. US-Infanteriedivision zum Handschlag, was in letzter Minute die Bombardierung der Stadt verhinderte.
Torgau also strahlt. Doch nur wenige wissen, dass nach dem General-Ablass 1515, der unglaubliche Millionen Jahre Sünden entsorgte und bei Luther das Wut-Fass zum Überlaufen brachte, dass der Augustinermönch angesichts dieser Ungeheuerlichkeit sowie anderem seinerzeit katholisch-üblichem Wahnsinn vornehmlich in Torgau damit begann, seine fundamentale Kirchenkritik zu formulieren. Die goss er zwei Jahre später in 95 Thesen und nagelte das explosive Reformpaket an die Wittenberger Schlosskirche. Damit verhalf er dem benachbarten Ort zum offiziellen Titel „Lutherstadt“, derweil Torgau bis heute ohne den weltberühmten Namen im Logo auskommen muss. Dabei wurde hier die Reformation von Luther & Kollegen theoretisch ausgetüftelt. 2017 wird deren Jubiläum von ganz Deutschland (singulär länderübergreifender Feiertag am 31. Oktober) nebst aller Welt begangen werden. Eine „nationale Sonderausstellung“ in Torgau, es ist die erste von drei folgenden anderenorts, soll erzählen, was hier vor fünf Jahrhunderten geschah.
„Luther und die Fürsten“ ist ihr Motto. Es geht um die Selbstdarstellung und das Selbstverständnis des Herrschers im Zeitalter der Reformation, also vornehmlich um jene, die den religiösen Umstürzler freilich nicht ohne Eigennutz stützten, der da antipäpstlich revolutionär unterschied in göttliche und weltliche Macht.
Hier in Torgau weihte Luther die Schlosskirche, den von ihm konzipierten ersten protestantischen Kirchenbau der Welt – mit Kanzel (es gilt das gesprochene Wort) und mit Orgel im Mittelpunkt (Luther: „Eine der schönsten und herrlichsten Gaben Gottes ist die Musik, damit man viel Anfechtung und böse Gedanken vertreibt.“). Hier in Torgau erarbeitete Luther mit seinen Kollegen Melanchthon, Jonas & Bugenhagen um 1530 die Grundlagen für den ein Vierteljahrhundert später geschlossenen Frieden von Augsburg, der das einigermaßen vernünftige Nebeneinander der beiden großen christlichen Konfessionen regelte – ein zukunftsweisendes, gegenwärtig geradezu brennend aktuelles Modell. – Alles Torgau!
Dazu die Arbeiten der Cranach-Werkstatt (der Bilder-Dienst der Reformation); dazu das stolz-repräsentative Auftreten der fürstlichen Herrscher, das Künste, Wissenschaften und sogar die sozialen Verwaltungen enorm stimulierte – Aufbruch in die Moderne. Mit der Hans-Lufft-Bibel (infolge der Gutenbergschen Medienrevolution Buchdruck), mit neuer Musik, neuem Realismus in der Kunst, mit neuem Denken – Renaissance eben, Frührenaissance; freilich eine Revolution von oben. Und doch ein gigantisches Fortschreiten zur Freiheit; ein emanzipatorisches Beispiel. Bis heute. Gerade heute!
Was vor einem Halbjahrtausend begann, fing, wie gesagt, wesentlich im Städtchen Torgau an. In dessen für uns kostbaren, weil original erhaltenen Mauern. Davon kündet auf prägnante Weise mit aussagestarken Exponaten und kunstvollen Preziosen aus aller Welt vom 15. Mai bis zum 31. Oktober dieses Jahres besagte Ausstellung unter Schirmherrschaft des Bundespräsidenten. Sie wird, so sagt es das Konzept, Luthers mutige, beispielhaft kritische Lesart von Gottes Wort illustrieren und deren Niederschlag in seinen bis heute alle Welt bewegenden, sie teils umstürzenden Schriften „Von der Freiheit des Christenmenschen“ sowie „An den Adel christlicher Nation“. Es soll also auf den 1500 Quadratmetern Ausstellungsfläche in drei historischen Gehäusen ums Oben gehen, ums neue Selbstverständnis sowie um die Selbstdarstellung des Herrschers im Reformationszeitalter. Und weil es kein Oben ohne Unten gibt, wird die Torgau-Schau den Zusammenhang zwischen beidem in den Mittelpunkt rücken; nämlich die von Luther beschworene, so dringlich ins Moderne weisende Trennung der himmlischen und irdischen Sphären. Zugleich soll erzählt werden vom schweren Kampf um die Anerkennung der protestantischen und katholischen Konfession als gleichberechtigte Glaubensrichtungen – einem Vorbild für heutige Auseinandersetzungen um den „einzig wahren“ Glauben. So wird begreiflich: Torgau ist die Keimzelle einer neuen Ordnung, die auseinander hält, was nicht in eins gehört, aber die Koexistenz dieses Nebeneinanders im Programm hat.
Ach, Torgau in Sachsen an der Elbe. Ach, Schloss Hartenfels mit seinem architektonischen Wunderstück, dem Wendelstein als Treppenhaus ohne innere Stützen. Ach, Martin und Gemahlin Katharina (hier beerdigt). Ach, Kurfürst Johann Friedrich der Großmütige, du toller Dicker mit dem prächtigen Rauschebart, Beschützer und Helfer der Reformation, die ihm ein frisches, starkes Selbstbewusstsein als weltlicher Herrscher bescherte und der sein Hartenfels zu Luthers „fester Burg“ ausbaute. Ach, Kurfürst August, den das Cranach-Studio so unverschämt sexy porträtierte und der mit neu gestärktem Machtbewusstsein den Torgauer Hof zu einem der prächtigsten Europas entwickelte und der mitwirkte am Durchboxen des Augsburger Religionsfriedens von 1555, der die Reformation nachhaltig festigte. Bis heute und wohl für immer. Alles Torgau: Hier fing es damit an im Wesentlichen, hier war ihr politisches Zentrum. Aller Welt sei gesagt: Schaut endlich auch auf diese Stadt! Klingt ein bisschen nach Größenwahn oder übereifriger Touristenwerbung; ist aber richtig. Und keiner wird enttäuscht sein.
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