18. Jahrgang | Sonderausgabe | 20. April 2015

Vorm Glockengeläut

von Erhard Crome

Gerade hatte ich, im Zusammenhang mit Diskussionen um die neu-deutsche Vereinigung, deren Vollzug sich bald zum 25. Male jährt, den schmalen Band von Günter Grass mit seinen Reden aus jener fernen Zeit zur Hand genommen, als die Meldung kam, er ist nun verstorben. Es sollte nicht überraschend gewesen sein, erreichte er doch das Alter von 87 Jahren, war dann aber doch überraschend, eben noch hatte er in der Öffentlichkeit agiert. Irgendwie gehörte er zu diesem Land, war einer seiner kritischen Begleiter. „Günter Grass war ein Weltliterat“, ließ die Kulturstaatsministerin Monika Grütters von der CDU verlauten, „sein literarisches Vermächtnis wird neben dem von Goethe stehen“. Das klingt staatstragend, entspricht seinem Rang als Literaturnobelpreisträger aus Deutschland.
Aber meint sie das auch? Günter Grass war gerade kein Freund jener deutschen Einheit, die da 1990 gemacht wurde, schon gar nicht des damals dies machenden Bundeskanzlers. Am 2. Oktober 1990, am letzten Tag der deutschen Zwiegestalt, war Grass eingeladen, vor den Fraktionen der Grünen und von „Bündnis 90“ seine Rede zu diesem Anlass zu halten: „Ein Schnäppchen namens DDR“. Es ist der Hauptteil des schmalen Bändchens. Der Untertitel: „Letzte Reden vorm Glockengeläut“ bezieht sich darauf, dass für den 2. Oktober Glockenläuten festgelegt war. Grass spricht von der „Einheit ohne Einigkeit“, der ein Datum gesetzt wurde. „Zum 2. Oktober wurde Glockengeläut angesagt als Ersatz für Freude, die vergangen ist; es sei denn, dem Fernsehen, als Erfinder neuer Wirklichkeit, gelingen einige Jubeleinblendungen. So wird Geschichte gemacht.“
Die Voraussetzungen waren günstig: Solidarność in Polen, Havel, die Öffnung des Eisernen Vorhangs in Ungarn, Gorbatschow. Auch das Herrschaftsgebäude der SED bekam Risse. „Dort, wo jahrzehntelang Schweigen dem sprichwörtlichen Edelmetall gleichwertig zu sein hatte und allenfalls hinter vorgehaltener Hand geklagt wurde, ging das Volk, genauer gesagt dessen mutiger Teil auf die Straße und sprach auch so, unüberhörbar: ‚Wir sind das Volk!‘ Ein Irrtum, wie sich bald herausstellte, denn ab Ende November letzten Jahres gehörte jenem Teil des Volkes, der vorher geschwiegen hatte, die Straße. Das war der größere Teil. Er rief: ‚Wir sind ein Volk!‘ und ließ, gewalttätig unduldsam wie gelernt, den kleineren Teil nicht mehr zu Wort kommen.“
Den Fortgang der Dinge bestimmt der Westen. „Im westlichen Deutschland wurde der Ruf nach Einheit, wenn nicht vom Volk, dann von dessen Politikern eilfertig aufgenommen. Unter Verzicht auf gemeinsame Nachdenklichkeit sollte es schnell und schneller gehen, damit ja nichts anbrennt, hieß es. Zu sperrig sei das Möbelstück ‚Runder Tisch‘. Wer weiß, wie lange sich Gorbatschow hält. Bedenken sind unzeitgemäß. Als der Weisheit letzter Schluss wurde eine Bahnhofsdurchsage wiedergekäut: ‚Der Zug ist abgefahren!‘“
Nun betritt der Einheitskanzler die Bühne: „Und jemand, der sonst Probleme auszusitzen pflegt, glaubte, den Mantel der Geschichte rauschen zu hören, sprang auf und griff zu. Weil jedoch der Zwiemacht aus Zwietracht, die nun Einheit werden soll, der einigende Gedanke fehlt, wurde den Rufern nach staatlicher Einheit der materielle Teil ihres Wunsches durch ein Versprechen fasslich gemacht; schließlich standen Mitte März – so schnell ging’s voran – Wahlen ins Haus. Die versprochene D-Mark. Die harte Währung. Die glückverheißende Münze. Der Gedankenersatz und Alleskleber. Das Wunder in Neuauflage. Seitdem ist nur noch vom Gelde die Rede, wenngleich eine Zeitlang salbungsvoller maulgehurt wurde und das Doppelgespann ‚Würde und Anstand‘ den Karren ziehen musste. Doch würdeloser und unanständiger hätten die deutsche Einheit und deren Gefährt nicht eingepeitscht und vorangetrieben werden können.“
Das hatte Monika Grütters gewisslich nicht im Sinne, als sie Grass würdigte. Die Wikipedia-Schreiber nennen Grass‘ Wahlkampfeinsatz für Willy Brandt, seine Kritik am Besuch von Kanzler Kohl mit dem US-Präsidenten Reagan auf dem Soldatenfriedhof Bitburg 1985 und seine Haltung in Sachen Mohammed-Karikaturen 2006. Die dazwischen liegende kritische Haltung zur deutschen Einheit bleibt unerwähnt.
Bereits am 2. Februar 1990 hatte Grass auf dem Kongress „Neue Antworten auf die deutsche Frage“ gesprochen, in der Evangelischen Akademie Tutzing. (In der Egon Bahr 1963 seine berühmte Rede „Wandel durch Annäherung“ gehalten hatte, die die Ostpolitik der Brandt-Regierung begründete.) Als Überschrift wählte er: „Kurze Rede eines vaterlandslosen Gesellen“. Mit ihr beginnt der hier in Rede stehende Band. Grass beginnt damit, dass ihn bereits vor Weihnachten 1989 ein junger Mann auf dem Hamburger Hauptbahnhof laut als „Vaterlandsverräter“ beschimpft hatte. Seine Kritik an einem sich abzeichnenden deutschen Einheitsstaat war bekannt. Grass betont, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung damals nichts anderes machte, als jener junge Mann auf dem Bahnhof aussprach. Es reichte nicht, dass der Kommunismus bankrott war, es sollte auch der Traum von einem „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“, jede Idee eines dritten Weges vorbeugend verdammt werden. „Deshalb wird jeder Hinweis auf die nunmehr erstrittene Eigenständigkeit der DDR und ihrer Bürger sogleich mit Umsiedlerzahlen verschüttet. Selbstbewusstsein, das sich trotz vierzig Jahre währender Unterdrückung leidend entwickelt und schließlich revolutionär behauptet hat, darf nur kleingedruckt Platz beanspruchen. So soll der Eindruck entstehen, dass in Leipzig und Dresden, in Rostock und Ost-Berlin nicht das Volk der DDR, sondern auf ganzer Linie der westliche Kapitalismus gesiegt hat. Und schon wird Beute gemacht. Kaum hat die eine Ideologie ihren Griff lockern, dann aufgeben müssen, da greift die andere Ideologie wie altgewohnt zu. Notfalls zeigt man die marktwirtschaftlichen Folterinstrumente. Wer nicht spurt, kriegt nix. Nicht mal Bananen.“
Bereits in der Tutzinger Rede stellt Grass den zehn Punkten Kohls fünf Punkte „für eine Konföderation“ gegenüber. Zugleich sieht er die „Wiedervereinigung“ kommen und sagt laut: „Nein, ein so unanständig auftrumpfendes, durch Zugriff vergrößertes Vaterland will ich nicht… Dieses Vaterland verrate ich jetzt schon; mein Vaterland müsste vielfältiger, bunter, nachbarlicher, durch Schaden klüger und europäisch verträglicher sein.“ In der Rede vom 2. Oktober nimmt er diesen Gedanken wieder auf: „Doch jetzt kommen härtere Tage; Glocken läuten sie ein. Erfasst sind alle Daten und fortan leicht zugänglich dem gesamtdeutschen Missbrauch… Nun haben wir sie, die Klassengesellschaft: sozial gespalten, ist den Deutschen innerer Unfriede sicher. Noch bevor er sich ausrief, brach schon der neue Staat das Grundgesetz und verweigerte dem Volk eine Verfassung. Kein vielfältiger ‚Bund deutscher Länder‘, dessen Bürger ich gern wäre, hat Zukunft; ein Monstrum will Großmacht sein. Dem sei mein Nein vor die Schwelle gelegt.“
Fast seherisch hat Grass zu dieser Großmacht in Tutzing gesagt: „Am Ende werden wir knapp achtzig Millionen zählen. Wir werden wieder einig, stark und – selbst beim Versuch, leise zu sprechen – laut vernehmlich sein.“ Gegenwärtig dröhnt diese scheinbar leise klingende Stimme bis nach Kiew und Moskau. Am 21. März 2015 hat Günter Grass der spanischen Tageszeitung El País ein Interview gegeben, das wohl sein letztes war. Darin warnt er vor einem neuen Weltkrieg: „Wir steuern auf den dritten großen Krieg zu.“

Günter Grass: Ein Schnäppchen namens DDR. Letzte Reden vorm Glockengeläut, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1993, 64 Seiten, 5,90 Euro.