von Mathias Iven
Es ist bedauerlich. Bis heute fehlt eine Gesamtausgabe der Werke von Arthur Schopenhauer. Hat uns der vor 155 Jahren in Frankfurt am Main Verstorbene nichts mehr zu sagen? Wird ihn die künftige Philosophiegeschichtsschreibung einfach zur Seite legen? Ihn, der im April 1811 gegenüber Wieland erklärt hatte: „Das Leben ist eine mißliche Sache, ich habe mir vorgesetzt, es damit hinzubringen, über dasselbe nachzudenken.“ Ist dies eine für die Philosophie zu simple Fragestellung? Wollen oder sollen wir nicht mehr über das Leben nachdenken?
„Wenn aber der Wert eines philosophischen Systems in Dem besteht, was der Philosoph aus der unmittelbaren Beobachtung der Natur, des Lebens und des eigenen Innern geschöpft hat, und welches vielleicht einseitig, aber, weil aus unmittelbarer Naturanschauung entsprungen, nicht eigentlich falsch sein kann, so bieten Schopenhauers Werke auch denen, welche seiner Grundanschauung nicht beizustimmen vermögen, eine Fülle ursprünglicher, kräftiger Gedanken, wie sie in diesem Maße bei keinem anderen Philosophen der neueren Zeit zu finden ist.“ Dieses Urteil von Paul Deussen, 1911 geschrieben für den ersten Band der von ihm geplanten und leider nicht zum Abschluss gebrachten Schopenhauer-Gesamtausgabe, hat nichts an Aktualität verloren.
Natürlich stehen sich Aufwand und Nutzen gegenüber: Deutschlands große Akademieausgaben, die die Werke von Kant, Hegel, Nietzsche oder Leibniz präsentieren, sind nicht zum Selbstkostenpreis zu haben. Und doch gibt es sie und es gibt die entsprechenden Fachkräfte, allesamt Enthusiasten, die sich der Erschließung des Werkes einer Person verschrieben haben – und das oftmals über Jahrzehnte hinweg… Jedes Jahr stehen im Rahmen eines von der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften koordinierten Programms beträchtliche Summen zur Verfügung, um all das, was die großen Geister der Vergangenheit einmal niedergeschrieben haben, zu veröffentlichen – warum dann nicht auch die Hinterlassenschaften Schopenhauers?
Lassen wir weitergehende Überlegungen dazu außer Acht, noch ist dieser große Denker des 19. Jahrhunderts präsent. Dass dem so ist, ist sicherlich dem Wirken der 1911 in Kiel gegründeten Schopenhauer-Gesellschaft und der 2008 an der Universität Mainz eingerichteten Schopenhauer-Forschungsstelle zu danken. Vor allem sind es aber die unermüdlich forschenden und Fördergelder einwerbenden Herausgeber auf der einen Seite und die verlegerischen Entscheidungen auf der anderen Seite, die das philosophische Erbe bewahren helfen. So hat sich seit einigen Jahren der auf eine über 250jährige Geschichte blickende Münchener Verlag C. H. Beck Schopenhauers Werk angenommen. Vorrangig wurden dort bisher Anthologien veröffentlicht, so zu den Themen Tod oder Selbsterkenntnis, es erschienen aber auch Schopenhauer-Sentenzen versammelnde „Ratgeber“ unter Titeln wie Die Kunst, glücklich zu sein“ oder „Die Kunst zu beleidigen“.
Im Jahre 2010 wurde schließlich ein umfangreich kommentierter Band mit Schopenhauers letztem Notizbuch vorgelegt. Begonnen im April 1852 und von ihm selbst mit dem Titel „Senilia“ versehen, diente es ihm bis zu seinem Tod über acht Jahre hinweg als Gedankenlaboratorium. Und nun also die „Spicilegia“, die, wie man es übersetzen kann, Schopenhauersche „Ährenlese“. Die zum größten Teil bisher unveröffentlichten Aufzeichnungen entstanden zwischen 1837 und 1852. Es war dies die Zeit, in der Schopenhauer unter anderem seine beiden „Preisschriften“ veröffentlichte (1839/40), die zweite, stark erweiterte Auflage seines Hauptwerkes „Die Welt als Wille und Vorstellung“ publizierte (1844) und die „Parerga und Paralipomena“ erschienen (1851). In Letztere ist in bearbeiteter Form ein großer Teil der „Spicilegia“-Aufzeichnungen eingegangen. Es lassen sich in den „Spicilegia“ aber auch zahlreiche Entwürfe zu den in diesen Jahren zum Druck gebrachten Werken aufspüren, die meist schon lange vor deren Erscheinen festgehalten wurden.
„Bloße Vorübung“ oder „ungeheuere Studien“: Beides findet sich in den „Spicilegia“, und beides hat ein Recht veröffentlicht zu werden. So sieht es auch Ernst Ziegler, der in St. Gallen ansässige Herausgeber, der, wie schon bei den „Senilia“, eine hervorragende editorische Arbeit geleistet hat. Jedem noch so kleinen Zitat, jeder noch so versteckten Anspielung wurde mit Akribie nachgegangen, jede auszugsweise Wiedergabe von Textstellen in den bisherigen Werkausgaben wird belegt. Solche, für die Quellenforschung unerlässlichen Ausgaben wünscht man sich! Und man darf in diesem Fall hoffen: Bereits jetzt ist die Edition des den „Spicilegia“ vorhergehenden, den Zeitraum 1832 bis 1837 umfassenden Manuskriptbandes „Pandectae“ – was so viel wie „Allumfassendes“ bedeutet – angekündigt, wo sich beispielsweise Bemerkungen wie diese aus dem Jahre 1836 finden: „Dieselbe Niederträchtigkeit (Docilität), welche den Hegelschen Unsinn, dem die Regierung günstig war, weltberühmt machte, ist es, die mein Werk aller Notiz entzogen hat.“ Spätestens mit den von Ziegler vorgelegten Bänden sollte sich das ändern!
Arthur Schopenhauer: Spicilegia. Philosophische Notizen aus dem Nachlass, Verlag C. H. Beck, München 2015, 800 Seiten, 48,00 Euro.
Schlagwörter: Arthur Schopenhauer, Ernst Ziegler, Mathias Iven, Philosophie