von Bernhard Romeike
Im Mittelmeer sind wieder Hunderte Menschen ertrunken. Hierzulande jedoch heißt es: „Das Boot ist voll.“ Das Boot voller Menschen aber ist gesunken, im Mittelmeer. Die Toten sind tot durch Unterlassen. Der Ministerpräsident von Malta ruft nach der EU. Aber die sagt nur zu, in einer Sondersitzung zu sitzen. Dass sie mehr tut, als zu sitzen, ist nicht ausgemacht. Mehr zu helfen, sagt der zuständige deutsche Minister, würde nur die Schlepperbanden ermuntern. Das meint: Es ist besser, wenn die Geschleppten ertrinken. Vielleicht spricht sich das rum und schreckt ab.
In Elfriede Jelineks klagendem Chor-Stück „Die Schutzbefohlenen“ rufen die Flüchtlinge, die, die das rettende Ufer erreichten: Wir leben. Hauptsache wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben nach Verlassen der heiligen Heimat. Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug, aber auf uns herabschauen tun sie schon. Wir flohen, von keinem Gericht des Volkes verurteilt, von allen verurteilt dort und hier. (Alle nachfolgend kursiv gesetzten Passagen entstammen dem Stück – Hinweis B.R.)
Eine Gruppe von Asylwerbern war nach stundenlangem Protestmarsch am 24. November 2012 im Sigmund-Freud-Park vor der Wiener Votivkirche angekommen. Gegen die Bedingungen im österreichischen Aufnahmelager Traiskirchen, die sie als menschenunwürdig empfanden, protestierten sie mit einem Protestlager. Am 18. Dezember, dem Internationalen Tag der Rechte der Migranten, suchten etwa dreißig Asylwerber aus der Gruppe die Votivkirche als „Schutzraum“ auf. Drei Wochen lang war ihre Stimme nicht gehört worden. Der Pfarrer der Kirche versuchte, die Asylwerber unter Zuhilfenahme der Polizei und der Caritas zum Verlassen der Kirche zu bewegen. Sie blieben jedoch. Viele Menschen protestierten und forderten eine humane Lösung. Ein „Runder Tisch“ wurde eingerichtet. Elfriede Jelineks Anteilnahme an diesen Protesten wurde das Stück.
Gut, das verstehen wir, das haben sie nicht wissen können, dass wir kommen, wir haben uns auch nicht angemeldet, wir sind unangekündigt erschienen. Wir sind die Unangekündigten. Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da.
Jelinek, die österreichische Nobelpreisträgerin, verschränkt die Tragödie der heute Schutzsuchenden mit Motiven aus Aischylos’ Tragödie „Die Schutzflehenden“. Der Chor ist Programm. Er ist der eigentliche Akteur, dröhnt und flüstert, spricht stets präzise, wühlt auf. Gleichwohl haben es Michael Thalheimer, Klaus Missbach und Marcus Crome vermocht, den in höchstem Maße künstlerischen, in sich geschlossenen Text so zu zerlegen, dass nicht nur der Chor spricht, sondern einzelne Protagonisten hervortreten, eine Rolle spielen, ein Schicksal verkörpern. So entsteht ein wirkungsvolles Interagieren zwischen dem Chor und seinen einzelnen Personen. Die Bühne ist dunkel. Durch ein erleuchtetes Kreuz treten die Schauspieler in das Geschehen ein. Der Bühnenraum wird durch ein Wasserbecken gefüllt, in das die Schutzbefohlenen gehen, durch das sie stapfen, in das sie fallen. Wer am anderen Ufer anlangt, ist nicht im Mittelmeer ersoffen. Aber er ist noch lange nicht der Rettung teilhaftig.
Das Wissbare aus unserem Leben ist vergangen, es ist unter einer Schicht von Erscheinungen erstickt worden, nichts ist Gegenstand des Wissens mehr, es ist gar nichts mehr. Es ist auch nicht mehr nötig, etwas in Begriff zu nehmen. Wir versuchen, fremde Gesetze zu lesen. Man sagt uns nichts, wir erfahren nichts, wir werden bestellt und nicht abgeholt, wir müssen erscheinen, wir müssen hier erscheinen und dann dort, doch welches Land wohl, liebreicher als dieses, und ein solches kennen wir nicht, welches Land können betreten wir? Keins. Betreten stehen wir herum. Wir werden wieder weggeschickt.
Es heißt über den Text, er sei ein bild- und sprachmächtiges Oratorium. Der Gesang kommt aus dem Sprechen. Seit Schleef, heißt es in einer Kritik, sei nicht mehr ein solcher Chor auf der Bühne gestanden. Vielleicht ist das pejorativ gemeint. Es ist aber ein Kompliment. Diese Zeiten bedürfen wieder einer großen Sprache. Die kann ein Theater, das sich in Exkrementen wälzt und nackte Leere präsentiert, nicht liefern. Jelinek und Thalheimer konfrontieren uns mit der Wahrheit, dass die Menschenrechte in der Praxis nicht für alle gelten.
Wir haben Gründe, aber es sind keine Rechtsgründe. Wo das Recht anfängt, hört der Grund auf, jeder Grund, das ist dann die Rechtsgrundstücksgrenze, und sie verläuft: genau hier. Genau! Treu dem Recht richte nun über mich, über den Schutz der Götter hier wie der Menschen, die es sich richten können. Wir nicht. Wir können nichts machen. Da kann man nichts machen. Wir sind nichts, und uns wird nichts erlaubt, obwohl wir gern mitmachen würden, ist besser als zuschauen, nicht wahr, damit das Recht auch von uns ausgeht, damit das Recht auch vom Volk ausgeht, das dann auch wir sein werden, aber das Recht geht nicht, und wenn es ausgeht, dann macht es sich fein, dann brezelt es sich auf, aber wir dürfen nicht mit, man lässt uns nicht mal ins Lokal hinein, das ist nicht gerecht, obwohl das Recht auch von uns ausginge, zumindest ausgehen könnte, wenn es mal Freizeit hätte und wir unseren Traumpass.
Einige der Flüchtlinge, die sich 2012 auf den Protestmarsch gemacht haben, werden vor Gericht gestellt, andere finden zeitweilig Obdach in einem Kloster, das sie dann „wegen Bauarbeiten“ wieder verlassen müssen. Einige von denen versuchen am 30. Oktober 2013, Unterschlupf in der Akademie der Bildenden Künste in Wien zu finden. Dort steht der berühmte Flügelaltar von Hieronymos Bosch, das Triptychon vom „Weltgericht“. Entgegen der damaligen ikonographischen Auffassung steht bei Bosch die Herrschaft der „Sieben Todsünden“ im Mittelpunkt. Das Paradies ist in weite Ferne gerückt. Die Mehrheit der Menschen lebt in Sünde und findet keinen Ausweg. Zu den Sieben Todsünden gehören nicht nur Hochmut, Geiz, Ausschweifung, Neid und Rachsucht, sondern auch die Selbstsucht und die Trägheit des Herzens.
Jelinek meint auch dies. Der Chor spricht von der Bühne:
Wir werden nicht mehr gerettet, wir werden gleich gerichtet und abserviert, bevor man uns noch anschauen und wieder fortschicken kann. Und sie, sie werden immer noch da sein, zuerst richten, dann nicht retten, genau!, so ist es gut, dann werden wir sie vielleicht endlich in Frieden lassen, so haben sie sich das gedacht, oder auch nicht, egal, wir werden weniger sein, als wir jetzt sind, wir werden immer weniger werden, wir werden immer kommen und dann dezimiert werden, wir werden weniger sein, als wir vorher waren, wir werden nichts sein, das ist es ja, was sie wollten und was wir jetzt bekommen. Frieden. Wir werden endlich einen Frieden geben und still sein.
Dieser Frieden ist gemeint, wenn es auch in Deutschland heißt, diejenigen endlich auf den Punkt zu bringen, die kein Asylbewerberheim in ihrer Nähe wollen. Am besten gar keins. An keinem Ort. Nirgends.
Die siebente Todsünde heißt im Lateinischen Acedia. Oben wurde sie mit „Trägheit des Herzens“ übersetzt. Sie ist aber auch namhaft zu machen als: Faulheit, Feigheit und Ignoranz.
„Die Schutzbefohlenen“ von Elfriede Jelinek im Wiener Burgtheater. Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Olaf Altmann, Chorleitung: Marcus Crome, Musik: Bert Wrede, Dramaturgie: Klaus Missbach. Nächste Vorstellungen: 29. April, 4., 11. und 12. Mai 2015.
Schlagwörter: Bernhard Romeike, Burgtheater, Elfriede Jelinek, Michael Thalheimer, Wien