18. Jahrgang | Nummer 9 | 27. April 2015

Russland und der Westen.
Eine Antwort auf Wolfgang Schwarz

von Karsten Voigt

Die Argumente von Wolfgang Schwarz in der vorangegangenen Ausgabe überzeugen mich nicht. Und dies vor allem aus folgenden Gründen:
Schwarz sieht in dem russischen Verhalten auf der Krim und in der Ost-Ukraine vor allem eine Reaktion auf die Sicherheitspolitik der NATO und insbesondere der USA. Der zeitliche Ablauf der Ereignisse in der Ukraine und die offizielle Begründung Putins für sein Verhalten sprechen gegen diese Deutung: Die Proteste in Kiew und in anderen Teilen der Ukraine begannen nach der Entscheidung von Janukowitsch auf dem EU-Gipfel in Wilnius, das EU-Assoziierungsabkommen nicht zu unterzeichnen. Die Demonstranten verlangten eine Revision dieser Entscheidung. Sie sahen in einer Annäherung an die EU eine größere Chance für eine Politik der Reformen und gegen die Korruption. Eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO stand zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht zur Debatte. Desgleichen hatte die EU zu keinem Zeitpunkt in dem russischen Stützpunkt auf der Krim ein Hindernis für eine Assoziierung gesehen. Putin seinerseits hatte noch wenige Jahre zuvor keine Einwände gegen eine derartige Bindung der Ukraine an die EU erhoben. Sein Verhalten im Jahre 2014 ist damit Ausdruck einer veränderten Politik Russlands gegenüber der EU. Russland hatte primär einen Konflikt mit der EU und erst nach seinem militärischen Eingreifen in der Ukraine – und auch dann nur indirekt – einen Konflikt mit der NATO.
Hinzu kommt, dass Putins wichtigstes Argument für sein Vorgehen neben der Berufung auf den Anschlusswunsch der Bewohner der Krim, Russlands vorgebliches Recht und Pflicht war, russische oder russisch-sprachige Minderheiten zu schützen. Zugleich berief er sich auf die historischen Bindungen der Krim und der Ost-Ukraine (Noworossija) an Russland. Diese Begründungen müssen von allen Staaten in der Nachbarschaft Russlands, in denen größere russisch-sprachige Minderheiten leben, wie zum Beispiel. in den baltischen Staaten und Kasachstan, als potentielle Bedrohung angesehen werden. Putins Hinweis auf Noworossija als historischer Teil Russlands trifft auf andere Gebiete ebenso zu: Finnland, das Baltikum, große Teile Polens und Moldawien gehörten bis zum Ende des 1. Weltkrieges zum russischen Reich. Dass Putins Äußerungen bei diesen Nachbarn Ängste auslösen, hat damit nicht nur mit historischen Erinnerungen sondern mit dem aktuellen Verhalten der russischen Führung zu tun.
Dies gilt umso mehr, als trotz der militärischen Überlegenheit der NATO und trotz der wechselseitigen nuklearen Vernichtungspotentiale Russland nach der Georgien-Krise jetzt zum zweiten Mal mit Hilfe militärischer Mittel Grenzverschiebungen vorgenommen hat. Dies ist neu: Solch eine Verletzung der territorialen Integrität von Nachbarstaaten hatten weder die Sowjetunion zu Zeiten des Kalten Krieges, noch Russland nach 1991 begangen. Deshalb verhalten sich die Nachbarn Russlands, die nicht Mitglied der NATO sind – wie Finnland und Schweden – und NATO-Mitglieder – wie die baltischen Staaten und Polen – völlig rational, wenn sie entweder ihre eigenen Verteidigungsanstrengungen verstärken oder glaubwürdigere Garantien der NATO verlangen. Wenn Deutschland diese Ängste und Interessen seiner kleineren europäischen Partner missachten würde, würde es die Grundlagen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in der EU und damit eine der wichtigsten Prioritäten der deutschen Außenpolitik gefährden. Ich hoffe, dass ein Bundeskanzler Schröder dies nicht anders gesehen hätte.
Noch am Anfang des vorigen Jahres hätte ich eine militärische Aggression der russischen Führung für höchst unwahrscheinlich gehalten. Das militärische Verhalten der russischen Führung auf der Krim und in der Ost-Ukraine und ihre veränderte Haltung gegenüber der EU haben mich im vergangenen Jahr zu einer Neubewertung der russischen Politik veranlasst. Deshalb befürworte ich, anders als vor dem Beginn der Krise, jetzt auch häufigere NATO-Manöver in den ostmitteleuropäischen und baltischen Staaten und ebenfalls die Vorbereitung auf die Möglichkeit der Verlegung größerer NATO-Einheiten im Falle einer Krise. Dies bedeutet andererseits aber auch, dass auf dem Territorium dieser Staaten – im Gegensatz zu dem Wunsch der östlichen Nachbarn Deutschlands – die NATO-Russland-Grundakte erhalten bleibt und dass keine dauerhafte Stationierung größerer konventionell bewaffneter Verbände und erst recht keine Stationierung von Nuklearwaffen stattfindet. Das Verhalten Russlands hat die NATO-Russland-Grundakte verletzt. Trotzdem befürworte ich eine zügige Reaktivierung des NATO-Russland-Rates.
Jetzt geht es vorrangig um die Deeskalation der Konflikte in der Ost-Ukraine. Hierzu kann eine Stärkung der Rolle der OSZE beitragen. Aufgrund der hohen Risiken dort, kann eine Überwachung der ukrainisch-russischen Grenze nur durch zum Zwecke des Selbstschutzes ausgerüstete Blauhelme durchgeführt werden. Für einen solchen Einsatz ist selbstverständlich die Zustimmung aller Mitglieder der OSZE und insbesondere auch die Russlands und der Ukraine erforderlich.
Die EU hat den Fehler gemacht, keine formellen Gespräche zwischen der EU, Russland und der Ukraine über die ökonomischen Folgen des Assoziationsvertrages für Russland und die Eurasische Union zu führen. Dieser Fehler wird jetzt korrigiert. Darauf aufbauend sollten Verhandlungen zwischen der EU und der Eurasischen Union über eine Zusammenarbeit erfolgen. Diese Zusammenarbeit könnte ebenso wie vertrauensbildende Maßnahmen im sicherheitspolitischen Bereich zum schrittweisen Ausbau kooperativer Elemente im Verhältnis zu Russland beitragen.
Auch dann wären die EU und Russland immer noch weit von dem Ziel einer gemeinsamen europäischen Friedensordnung entfernt. Hierzu gehören nicht nur sicherheitspolitisch relevante Vereinbarungen, sondern im Prinzip auch die gemeinsame Orientierung an den Prinzipien der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, so wie es in der Charta von Paris und der NATO-Russland-Grundakte vereinbart wurde.
Vor einigen Jahren noch orientierte sich die russische Führung an diesen Zielen, heute definiert sie sich in zunehmendem Maße politisch und kulturell gegen sie. Auch dies ist ein wichtiger Grund für die zunehmende Entfremdung zwischen den Mitgliedsstaaten der EU und Russland. Friedensordnung ist mehr als kooperative Sicherheits- und Entspannungspolitik. Sie setzt auch ein Mindestmaß gemeinsamer Werte voraus. Und auch aus diesem Grunde liegt die europäische Friedensordnung heute erneut in weiterer Ferne als noch vor wenigen Jahren.