von Edgar Benkwitz
In diesen Tagen ist der Premierminister Indiens, Narendra Modi, zu Besuch in Deutschland. Noch vor einem Jahr war das undenkbar, denn der damalige Provinzpolitiker wurde für antimuslimische Ausschreitungen in seinem Heimatstaat 2002 mitverantwortlich gemacht und durch westliche Regierungen mit einem Einreiseverbot belegt. Inzwischen ist er zum einflussreichsten indischen Politiker aufgestiegen und eröffnet gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel die weltweit wichtigste Industriemesse in Hannover, auf der Indien das diesjährige Partnerland ist.
Indien wird gegenwärtig wie noch nie in seiner Geschichte umworben, denn die angekündigte schnelle Modernisierung hat viele Begehrlichkeiten geweckt. Die neue, nationalistisch ausgerichtete Regierung will Indien zu einem starken Produktionsstandort ausbauen und wirbt um ausländische Investitionen. „Make in India“ – Produziere in Indien – ist der von Modi geprägte Slogan, der auch in Hannover von den Werbeflächen lockt.
Für den indischen Premierminister, von einem offiziellen Besuch aus Frankreich kommend, ist es in seiner zehnmonatigen Amtszeit der erste Besuch in Europa. Vorrang in seiner Reisediplomatie hatten bisher asiatische Nachbarstaaten, Japan, Australien und die USA. In Kürze wird er in China weilen, später in Russland. Doch die angestrebte Festigung der internationalen Stellung Indiens und die Erhöhung seines Einflusses stoßen immer wieder an Grenzen. Vor allem sind es die enorme Armut und die große Rückständigkeit von Hunderten von Millionen Menschen, die sich wie eine dicke Staubschicht über das Ansehen des Landes und alle seine Aktionen legen. Nach über 65 Jahren Unabhängigkeit stellt sich zunehmend die Frage, warum Indien derart große gesellschaftliche Defizite aufweist. Vor allem der Vergleich mit China ist frappierend: Hatten beide Staaten 1970 noch das gleiche Niveau, so übersteigen heute die grundlegenden Kennziffern Chinas diejenigen Indiens um das Dreifache.
Es war nun ausgerechnet eine stark nationalistisch ausgerichtete Partei, die Indische Volkspartei (BJP), die vor einem Jahr die Debatte über die Rückständigkeit des Landes und die sozialen Zustände enorm zuspitzte. Vor allem Narendra Modi, damals noch Ministerpräsident des Bundesstaates Gujarat, prangerte als Spitzenkandidat seiner Partei für die Unterhauswahlen schonungslos die inaktive und zudem an falschen Prioritäten orientierte Politik der alteingesessenen regierenden Kräfte an und entwickelte eigene Vorstellungen über die Zukunft des Landes. Bekanntermaßen zündete Modis Auftreten so, dass ein überwältigender Wahlsieg ihn in das Amt des Premierministers trug.
Doch das Agieren aus der Opposition heraus und das Tragen von Regierungsverantwortung können bekanntlich zwei sehr unterschiedliche Dinge sein. Das erfährt auch Narendra Modi. Es sind „die Mühen der Ebenen“ die der neue Premierminister zurzeit durchschreitet. Modi ist nach wie vor der Hoffnungsträger für viele Inder, der das Land modernisieren und aus der Armut herausführen will. Nach nur zehnmonatiger Amtszeit sind die greifbaren Ergebnisse naturgemäß mager. Nach Meinung vieler Beobachter reichen jedoch auch die bisher auf den Weg gebrachten Maßnahmen nicht aus, um den großen Ansprüchen gerecht zu werden. Es sind viele hemmende Faktoren, die sich der neuen Regierung in den Weg stellen. Doch ein Großteil davon kommt aus Modis eigener Partei und deren nachgeordneten Organisationen. Diese sind Verfechter eines Hindunationalismus, der jetzt allzu oft in einen regelrechten Chauvinismus ausartet. Er ist nicht nur auf kommunaler Ebene vorhanden, sondern zeigt sich auch im Parlament, ja sogar bei Regierungsvertretern. Gemäß ihrer Auffassung soll Indien ein Hindustaat werden, der zutiefst in den Traditionen einer hinduistischen Lebensweise und der Hindureligion verankert ist. Da wird es natürlich für Andersgläubige wie Muslime oder Christen eng, aber auch für modern ausgerichtete Lebensweisen, die in Indien immer stärker um sich greifen. Seine hässliche Seite zeigt dieser Nationalismus in der teils massenweisen Bekehrung Andersgläubiger zum Hinduismus und in den zunehmenden Angriffen auf christliche Gemeinschaften mit der Zerstörung von Kirchen. Die subtilere Seite offenbarte sich beispielsweise in einer Weisung der Erziehungsministerin an eine große staatliche Schulkette, zum Leidwesen von 65.000 Schülern das Unterrichtsfach Deutsch als erste Fremdsprache durch die altindische, aber jetzt tote Sprache Sanskrit zu ersetzen.
Man muss Narendra Modi zugutehalten, dass er sein hohes Amt nicht auf enge Parteiinteressen stützt, vielmehr den Dienst an der gesamten Nation in den Mittelpunkt rückt. Noch kein Premierminister vor ihm hat das Los großer Bevölkerungsschichten, die sozialen Missstände, einschließlich der oft erniedrigenden Stellung der Frauen, so konkret angesprochen wie er. Sogar in der Rede zum Nationalfeiertag war er sich nicht zu schade, auf die beschämenden und unzumutbaren sanitären Verhältnisse hinzuweisen, mit denen die Armen zurechtkommen müssen. Er selbst griff zum Besen und fegte die Straße, um so eine landesweite Kampagne gegen Schmutz einzuleiten. Für Brahmanen, die die alte politische Elite Indiens stellen, eine unzumutbare Tätigkeit. Modi hingegen stammt aus einer niederen Kaste und kommt aus ärmlichen Verhältnissen. Den fanatischen Hindunationalisten entgegnete er, dass seine Religion die Verfassung des Landes sei, der er sich zuallererst verpflichtet fühlt. Nach der Niederbrennung mehrerer christlicher Kirchen besuchte er im südindischen Kerala eine christliche Gemeinde und deren Gotteshaus.
Narendra Modi, als Hindunationalist erzogen und in Hinduorganisationen politisch groß geworden, setzt so Zeichen, die im Widerspruch zu einflussreichen Gruppierungen seiner Gefolgschaft stehen. Doch wird er deren enges, nationalistisches Denken und Fühlen nachhaltig beeinflussen können? Im Zusammenhang mit der spektakulären Mitgliederwerbung seiner Partei (die behauptet, jetzt über 90 Millionen Mitglieder zu haben) forderte er, dass die Zusammensetzung der Partei die Vielfältigkeit Indiens widerspiegeln müsse.
Eine schnelle wirtschaftliche Entwicklung des Landes ist für Modi die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass sich auch auf sozialem Gebiet positive Veränderungen ergeben. Modernsten Technologien gehört dabei sein besonderes Augenmerk. Von der Hannover-Messe wird er viele Anregungen mit nach Hause nehmen. Interessant wird sein, wie die deutsche Bundeskanzlerin mit Narendra Modi ins Gespräch kommen wird. Dieser ist für alle Anregungen dankbar, bei Belehrungen und kritischen Bemerkungen aber höchst empfindlich.
Von Deutschland aus wird der indische Premier nach Kanada weiterreisen. Ursprünglich war ein Besuch in Brüssel vorgesehen. Indien steht mit der EU seit 2007 in Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen, doch geht es nicht voran. Es scheint, dass sich die Gespräche zwischen der EU und den USA über ein Freihandelsabkommen störend in den Weg gestellt haben.
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