18. Jahrgang | Nummer 8 | 13. April 2015

Der Schatz der Benediktiner

von Wolfgang Brauer, aus Ramsau/Steiermark

Im Jahre 1074 gründete der Salzburger Erzbischof Gebhard im Ennstal das Benediktinerkloster Admont, das zu den bedeutendsten Klöstern der Steiermark gehört. So ganz nebenbei dürfte es auch der größte Arbeitgeber der Region sein. In den Eigenbetrieben des Stiftes sind derzeit rund 500 Mitarbeiter beschäftigt. Dazu kommen ein Gymnasium mit 650 Schülerinnen und Schülern, ein Pflegeheim und zusätzlich sind dem Stift 27 Pfarren zugeordnet. Aber nicht unbedingt deswegen – der vom Stift in Nordslowenien unter der Markenbezeichnung „DVERI PAX“ produzierte Rotwein ist allerdings ein Genuss – ist es empfehlenswert, bei der nächsten Reise Richtung Graz einen Abstecher nach Admont einzuplanen: Die Bibliothek ist es. Hier befindet sich einer der schönsten spätbarocken Büchersäle Europas, in dem 70.000 Bände stehen. Die Stiftsbibliothek umfasst insgesamt aktuell 200.000 Bände.
Wie alle Benediktinerklöster verfügte auch Admont sicher vom Zeitpunkt der Gründung an über eine Bibliothek. Ab dem 12. Jahrhundert ist ein Skriptorium nachweisbar. Im selben Jahrhundert brannte das Stift übrigens erstmals nieder. Dennoch: Der Buchbestand wuchs kontinuierlich. Klosterbibliothekar Peter von Arbon erstellte 1370 einen Bestandskatalog mit immerhin 670 Büchern, zehn Jahre später zählte er 800. Das waren mehr, als seinerzeit die Bibliothek des Vatikan besaß. Der Bibliothekwissenschaftler Bernd Lorenz hat Arbons Katalog aus dem Jahre 1380 untersucht und festgestellt, man werde „kaum eine andere zeitgenössische Benediktinerbibliothek mit der gleichen Ausgewogenheit der einzelnen Gebiete finden, was bedeutet, daß vielleicht einzig in Admont die Scholastik ganz planmäßig angeschafft worden war: Dagegen fehlt das zweitrangige theologische Schrifttum aus Antike und Frühmittelalter […]“. Anders ausgedrückt: Die Admonter Wissensverwalter waren offenbar bemüht, ihre wissenschaftliche Universalbibliothek – nichts anderes ist diese Büchersammlung! – auf der Höhe der Zeit zu halten.
Aufmerksame Besucher werden die ab 1751 erschienenen Bände der „Encyclopédie“ von Diderot und d’Alembert nicht übersehen. 1759 landete das Werk auf dem Index, hätte also im Ennstal gar nicht auftauchen dürfen. Auf dem Index standen auch alle Schriften Luthers. In der Admonter Bibliothek steht unübersehbar eine Luther-Bibel aus dem Jahre 1564. Leider ist der Griff in das Regal nur dem Stiftsbibliothekar erlaubt. Ich vermute, es handelt sich um einen Druck Hans Luffts aus Wittenberg. Wichtig in diesem Zusammenhang: Im Ennstal tobte sich die Gegenreformation mit großer Brutalität aus. Die hiesigen protestantischen Gemeinden leisteten gegen die Rekatholisierung heftigsten Widerstand. Das Vorhandensein ketzerischer Schriften zeugt also nicht unbedingt von gelebter Toleranz, eher von dem, was wir heute Konkurrenzanalyse nennen würden. Hinzu kommt sicher der Ehrgeiz der Bibliothekare, „ihre“ Bibliothek tatsächlich mit universalem Bestand auszustatten.
Aber ein gewisser Schalk – Umberto Ecos „Der Name der Rose“ spielt nicht zufällig in einer Benediktiner-Abtei – scheint sich in Admonts Gemäuern eingenistet zu haben: Den Bibliothekssaal schmücken seit etwa 1800 Josef Stammels (1695 – 1765) großfigurige Allegorien der „Vier letzten Dinge“. In der Auferstehungsdarstellung füllt ein gehörntes Teufelchen lustvoll das Buch der Missetaten des vor dem Richterspruche Christi stehenden Jünglings. Der „Admonter Bibliotheksteufel“ trägt eine dicke Lesebrille! Und nach dem Durchschreiten der Eingangstür zum im Südflügel des Gebäudes befindlichen sehenswerten Naturkundemuseum wird man von einem weiteren Autoren begrüßt, der auf dem Index landete: Charles Darwin…
In der Mitte des 18. Jahrhunderts platzte die Bibliothek aus allen Nähten. Inzwischen waren gut 40.000 Bände unterzubringen. Im Rahmen des spätbarocken Umbaus des Stiftes errichtete der Grazer Baumeister Joseph Hueber (1715 oder 1717 – 1787) deshalb um das Jahr 1773 im Ostflügel des Stiftes einen neuen Bibliothekssaal. Die vor ihm stehende Aufgabe war nicht leicht. Er musste einen 70 Meter langen und 14 Meter breiten schlauchartigen Saal in einen repräsentativen und zugleich modernen Raum verwandeln. Hueber löste das Problem, indem er drei Räume in einem schuf, diese mit insgesamt sieben Kuppeln überwölbte, von denen die vierte einen längsovalen Mittelraum – hier stehen an den Ecksäulen die „Vier letzten Dinge“ – mit einem fast kreisrunden Gewölbe, die der anderen „Räume“ sind elliptisch, überdeckt. Der Baumeister ließ zudem, ein Graus für heutige Bibliothekare, mit 60 Fenstern das Tageslicht in den zweigeschossigen Saal fließen. Diese Apotheose des Lichtes wird durch ein in strahlendem Weiß gehaltenes, mit vergoldeten Randleisten abgesetztes, den gesamten zweigeschossigen Bibliothekssaal umziehendes Regalsystem so verstärkt, dass wohl alle, die diesen Raum erstmals betreten, einen Moment innehalten müssen. Der Gesamteindruck ist überwältigend. Gleichsam zur Verstärkung dieses Eindruckes wurden die meisten der hier eingestellten Bücher mit weiß eingefärbtem Schweinsleder neu eingebunden.
Heute erscheinen die gefüllten Regale etwas bunter. Inzwischen füllen sie 70.000 Bände hauptsächlich mit der Entstehungszeit vom Beginn des 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Die ganz frühen Schriften sind nicht darunter. Die werden in klimatisierten Schutzräumen aufbewahrt. Admont besitzt gut 1.400 Kodizes, dazu kommt ein guter Bestand von 530 Inkunabeln.
In jährlichem Wechsel werden jeweils 13 Kodizes und Inkunabeln stellvertretend für die 13 Abteilungen der Büchersammlung in klimatisierten Vitrinen präsentiert. In diesem Jahr sind unter dem Motto „wir gingen durch feuer und wasser“ zum Beispiel die um 1205 entstandenen „Annales Admontensis“ aufgeschlagen. In ihnen wird berichtet, dass im Jahre 1110 Abt Heinrich I. im „Wizenbach“ im Ennstal „est submersus“ – der Abt ertrank im Hochwasser. In einem Kommentar zu den „Büchern der Könige“ des Alten Testamentes fügte 1175 Abt Irimbert seinen Bericht über den großen Stiftsbrand vom März 1152 ein. In einer benachbarten Vitrine findet sich scheinbar sehr Profanes: eine Weltkarte aus der Zeit um 1200. Die drei bekannten Erdteile Asia, Europa und Africa sind streng geometrisch um das Mittelmeer geordnet und werden umspült vom Oceanus. Aufschlussreiche Quellen sind die Predigtsammlungen. Sie bieten immer Hinweise auf die Probleme, die die Hirten mit ihren Schäfchen hatten. Von Abt Gottfried I. von Admont (1138 – 1165) ist eine fünfbändige, um 1160 niedergeschriebene Sammlung erhalten. Und für weniger gebildete Kleriker – entgegen weitverbreiteter Vorstellungen bekam das analphabetische Volk so etwas nie in die Hand! – wurde zum Beispiel um 1400 ein Erbauungsbuch angefertigt, ein mit  anrührend naiven Bildern ausgestatteter „Spiegel menschlichen Heils“ („Speculum humanae salvationis“). Aus der umfangreichen Bibelsammlung des Stiftes wird die zweibändige Koberger-Bibel (1483) präsentiert. Nicht nur dass der Nürnberger Bücher-Großunternehmer Anton Koberger (1440 – 1513) damit eine der wichtigen vorlutherschen Bibelübersetzungen verlegte, sein Druck besticht durch die hohe typographische Qualität und die gelungene Einbindung handkolorierter Holzschnitte einer niederdeutschen Bibelausgabe.
Diese Bücher überlebten allesamt tatsächlich Feuer und Wasser. In Ecos Roman geht die Bibliothek in einem Flammenmeer unter. In Admont überstand der Bibliothekssaal als einer der ganz wenigen Trakte am 27. April 1865 einen verheerenden Brand, der große Teile des Ortes, die Stiftskirche und die meisten Stiftsgebäude in Schutt und Asche legte. Seine Rettung waren offenbar die seinerzeit von Hueber aufgemauerten Gewölbedecken.
Überhaupt die Gewölbe: Besuchen Sie die Bibliothek, beachten Sie unbedingt die Fresken Bartolomeo Altamontes (1694 – 1783). In der sechsten Kuppel schüttet eine Putte einen Haufen Geschichtsbücher aus. Daneben sitzt Gott Chronos und führt eine „Chronologia“, bringt also Verstand und Ordnung in den ungeordneten Haufen sicher sehr bedeutsamer Ereignisse. Unter diese Kuppel sollte man die berlin-brandenburgischen Lehrplanschuster stellen. Die versuchen gerade, dem Geschichtsunterricht das chronologische Prinzip auszutreiben. Aber ich fürchte, sie verstehen Altamonte nicht. Die Benediktiner hätten solchen Leuten ihre Bildungsinstitute jedenfalls nicht anvertraut. Ihr Credo ergänzt nicht zufällig das bekannte „ora et labora“ mit „et lege“ – „und lies!“ Auch das erklärt ihre anderthalbtausendjährige Erfolgsgeschichte.