von Sem Pflaumenfeld
Manches sind Werturteile. „Das ist nur was für Mädchen“, ist eines davon. Was genau das heißen soll, vermag niemand zu sagen. Es ist nur eine Andeutung, dass sich etwas Lachhaftes dahinter versteckt.
Vor einigen Tagen, als ich wieder einmal auf dem Weg ins Büro zum Cappuccino in meine Stammbäckerei einkehrte, blätterte ich in einer handlichen Zeitungen mit den kurzen Artikeln und den noch kürzer gesprungenen Argumentationen. Ein erwachsener Anime-und Mangafan hatte ein minderjähriges Mädchen mit ähnlichen Hobbies im Internet angeschrieben, wusste sie zu berichten. Die Zitate, die die Zeitung ihrem Publikum anbot, sprachen von keiner Schwärmerei, sondern von einer Verfolgung der jungen Frau. Während er sich nach Auskünften der Presse schon eine Zukunft mit ihr ausgemalt hatte, musste sie ihn gruselig verständlicher gefunden haben. Diesem Presseorgan des Berliner Wutbürgers war nun in Andeutungen zu entnehmen, dass seine geistige Verfasstheit durch die Vorliebe für große gemalte Augen erheblich gelitten hatte.
Viele, die sich mehr als ich mit der Geschichte japanischer gezeichneter Kultur auseinandergesetzt haben, würden jetzt sagen, dass der Mann keine papierne Ermutigung für seine Weltsicht brauchte. Auch Mangas brachten ihm nicht bei, dass er sich kein Anrecht auf die Zeit, das Leben und den Körper eines anderen Menschen einbilden darf. Dass er sie, weil sie seinen „männlichen Stolz“ durch eine Ablehnung „verletzte“, umbrachte, kann auch nur ein deutsches Qualitätsmedium, in welchem die Texte nicht einmal die Hälfte das Artikels ausmache und aus Wiederholungen der gleichen Fragen bestehen, in Verbindung mit der eigenen Ignoranz über nicht-westliche mediale Ausdrucksformen bringen. Große Augen und kindliche Gesichtszüge sieht nämlich nur der westliche Journalist.
Ansonsten handelt es sich dabei, worauf diese westlichen Beobachter und Interpreten Japans hinauswollen, um die verschiedensten Stile eines Genres der Manga und Anime. Ich gehe davon aus, dass mit diesen unzutreffenden Beschreibungen die sogenannten Mädchen-Manga shôjo manga gemeint sind. In ihnen werden neben vielen anderen Dingen auch die Träume von Mädchen von Schönheit, Jugend und einem gehörigen Schuss wilder Romantik erzählt. Erwachsene Figuren sind dabei klar von Kindern zu unterscheiden, denn junge Mädchen wollen nicht für klein, unreif oder kindlich gehalten werden. Wenn man es genau nimmt, kommen Kinder sogar sehr selten vor. Denn eines der letzten Dinge, die wir in einem Manga für Mädchen finden, sind Anzeichen von einem Alltag. Es geht doch gerade darum, nicht die Erwartungen von Ehe und Familie zu erzählen.
In der dritten Staffel der Verfilmung von Sailor Moon (1992-97, Neuauflage 2014) tauchte ihre Tochter aus der Zukunft im Tokyo der Gegenwart auf, um ihr und ihrem Zukünftigen in die Quere zu kommen. Als dieser Kampf zwischen Mutter und Tochter um den Vater zu anstrengend für alle Beteiligten wurde, wurde sie kurzerhand gesorast. Das ist ein altes Phänomen von US-amerikanischen Seifenopern, die ein ähnliches Problem haben. Das Soap opera rapid aging syndrome (Soras, „Syndrom des schnellen Alterns in Seifenopern“) erspart den Fernseheltern nach heißen Liebesnächten und dramatischen Geburten, sich mit der eigenen Brut mehrere Jahre herumzuschlagen und das Publikum von Betrug, Ehebruch, Mord, Entführung, Wiederauferstehungen und den anderen alltäglichen Vorkommnissen abzulenken. In Japan gibt es auch solche dramatischen Serien, die über Jahre laufen. Mehr jedoch verfällt das Publikum den Dorama, die über einen abgeschlossenen Handlungsbogen über meist 12 Folgen verfügen. Da wird gemordet, gelitten, geliebt und gestorben, was das Zeug hält. Auch das ist eine mediale Form, die sich an Frauen richtet. Die Menschen sind schön und haben Probleme, denen der allgemeine Japaner eher selten in seinem Leben begegnet.
Der bürgerliche Krimi hat lange Zeit Frauen die Möglichkeit gegeben, ihre Mordlust niederzuschreiben. In Japan macht Natsuo Kirino immer wieder mit ihren Texten Furore. Denn die Frauen in ihren Texten bringen die Ehemänner um. So muss sich in dem auch in Deutschland erschienen Out (1997, „Die Umarmung des Todes“) eine Gruppe von Freundinnen mit der Beseitigung einer Leiche herumschlagen.
Die Abwesenheit von Männern in Texten irritiert Kritiker. Als das Genre der Jungmädchenromane in Japan im zweiten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts in Zeitschriften auftauchte, waren die Bewertungen schnell bei der Hand. „Sentimental“ war eines der Werturteile. Da Mädchen keinen Zugang zu formaler Bildung jenseits der sechs Jahre Grundschule hatten, gründeten Frauen und besorgte Eltern private Institutionen, aus denen nach der Bildungsreform 1946 die ersten Frauenuniversitäten entstehen sollten. Meist gab es je Präfektur eine höhere Mädchenschule, was die Töchter des neuen Bürgertums in die Städte brachte. Dort lebten sie in Wohnheimen und erlebten, wie das Leben unter Frauen sein konnte. Während das Bild der „verderbten Schülerin“ vor 1900 das einer sexuell freizügigen, unkeuschen war, galten diese Mädchen als schwer vermittelbar, sogar als heiratsunwillig. Eine Tochter aus gutem Hause, die im Wohnheim der YWCA (Young Women’s Christian Association) die Inspiration für ihre ersten Erzählungen und die Liebe fand, war Nobuko Yoshiya (1896-1973). In ihren „Erzählungen von Blumen“ Hanamonogatari (1916-1924) schmachtet die jeweilige Erzählerin in fremdländisch anmutenden Internaten Lehrerinnen für Französisch oder Musik, älteren Mitschülerinnen an. Die einzigen Männer, die auftreten dürfen, sind die Väter der Mädchen, die für die Ausbildung zahlen. Als sich Nobuko nach den als sentimental bezeichneten Blumenerzählungen und einem Parisaufenthalt 1928/29 ernsten Stoffen zuwandte, reichte das den Kritikern nicht. Der eminente Literaturkritiker, Hideo Kobayashi (1902-1983), fühlte sich von ihrem Roman „Frauenfreundschaften“ (1933/34) in seiner Intelligenz beleidigt. Ihm war nicht einsichtig, wie ein Roman nicht den Alltag erzählen könnte. Yoshiya befleißigte sich einer blumigen Sprache und antiquierten Ausdrücken. Auf den ersten Blick hatte eine Erzählung einer Frau, für die nach der Hochzeit der Kontakt zu anderen Frauen wichtig bleibt und deren Mann kaum auftritt, keinerlei gesellschaftliche Relevanz in einem Japan, dass den Konflikt mit China zu einem offenen Krieg eskalieren lassen sollte.
Es wurmte Kritiker, dass es nicht um sie ging. Geschichten um Familie und Haushalt hätte sie ebenso gelangweilt. Nicht umsonst wurde das Genre des „Haushaltsromans“ katei shôsetsu im Zuge der Bewegung um Bürger- und Menschenrechte in den 1870er Jahren von Männern erfunden. Denn häufig meinten die Ehemänner damit sich selbst. Eine Frau, die ihre Pflicht als Erzieherin der nächsten Generation wichtiger nahm als den ehelichen Gehorsam, war fast unerhört. Eine Frau, die die Ehelosigkeit vorzog, war kaum noch zu ertragen. Jedoch eine, die sich nicht für Männer interessierte, war die schlimmste Vorstellung. Nobuko liebte Frauen. Deswegen schenkte sie ihnen Blumen.
Wer einmal „Die Rose von Versailles“ Berusaiyu no bara (1972/73, Anime 1979) von Riyoko Ikeda (geboren 1947) gesehen hat, weiß, wie Blumen die Erzählung von Elend, Tod und Revolution überfallen können. Marie Antoinette ist darin ein wandelnder Rosengarten. Die französische Königin stirbt gar tragisch schön, die Liebe zu Männern hat auch ihr nicht geholfen, und für eine Revolution sind die Herren auch nicht zu gebrauchen. Alles muss die Heldin, die androgyne Lady Oscar, alleine machen. Ich bin mir sicher, dass Mädchen mehr über die Zeit um 1789 aus diesem Manga und der Verfilmung lernen als aus jedem Geschichtsbuch, das nicht für sie geschrieben worden ist.
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Schlagwörter: Anime, Frauen, Japan, Manga, Sem Pflaumenfeld