18. Jahrgang | Nummer 8 | 13. April 2015

Bahnhof Greifswalder Straße

von Erhard Weinholz

Am U-Bahnhof Marchlewskistraße fragte mich einmal eine Frau, ersichtlich keine Berlinerin, ob man von hier zum Ostbahnhof komme. Worauf ich ihr sagte, das sei durchaus der Fall. Sie war mit dieser Antwort aber nicht so recht zufrieden. Ebenso kommt man auf der Greifswalder Straße sicherlich irgendwie nach Greifswald, man muss nur Geduld haben. Zunächst jedoch führt sie geradewegs oder direktemang, wie man vor hundertvierzig Jahren zu sagen pflegte, nach Weißensee, und nach diesem Dorf hat man den Bahnhof, von dem hier die Rede ist, 1875, bei Inbetriebnahme, auch benannt. Damals lag er an der Verbindungsbahn, dem Vorläufer der heutigen Ringbahn, die dort die Greifswalder Straße kreuzt; seinen jetzigen Namen trägt er seit 1946.
Irgendwann in den frühen Siebzigern bin ich dort zum ersten Male ausgestiegen; ich wollte jemanden im Steengravenweg besuchen, einen guten Kilometer entfernt am Volkspark Prenzlauer Berg gelegen. Zum Glück wusste ich, damals noch neu in der Stadt, wenigstens die ungefähre Richtung; genauere Auskunft bekam ich zu meinem Erstaunen erst, als ich fast schon am Ziel war. Denn der Berliner, wahrscheinlich der Großstädter überhaupt, kennt seine Stadt nicht und spürt, wie ich später merkte, auch keinen Drang, seiner Unkenntnis abzuhelfen. Sie verliert sich ja nicht von selbst, man muss es wollen. Ich erinnere mich noch, wie ich im Frühsommer 1980 im Seitenflügel meines alten Hauses nahe beim Arkonaplatz am Fenster stand und mir plötzlich bewusst wurde, dass ich keinerlei Vorstellung von der Gegend zwei, drei Straßen weiter hatte. Ich zog mir Jacke und Schuhe an und machte mich, es dämmerte bereits, auf den Weg.
Zu jener Zeit, in den frühen Achtzigern, traf ich mich alle zwei Wochen vor dem Bahnhof, auf der Greifswalder Straße, mit meinem Freund G., um mit ihm hinüberzulaufen zur Schwimmhalle im Neubauviertel nahebei, ein paar Minuten nur entfernt. Beide arbeiteten wir, in unterschiedlichen Instituten, an der Akademie der Wissenschaften. Doch nicht dort hatten wir uns kennengelernt, sondern in einem oppositionellen Freundeskreis, aus dem in jenen Jahren der Pankower Friedenskreis entstand. Nach dem Schwimmen setzten wir uns in die Gaststätte Lohrentz, dem Bahnhof gleich gegenüber, und besprachen die Weltlage.
G. war – und ist – einiges sportlicher als ich; von ihm stammte auch die Idee zu diesem Treffen. Ich dagegen war ein ziemlich schlechter Schwimmer, und eines Tages im Mai ’82 ging gar nichts mehr: Ich hatte das Gefühl, Arme und Beine nicht mehr im Gleichtakt bewegen zu können und absaufen zu müssen. Beim nächsten Mal besser, dachte ich mir, doch die Hoffnung war vergebens, es war mit dem Schwimmen seitdem vorbei. Auch in anderer Hinsicht hatte ich damals Mühe, mich über Wasser zu halten: Ende April ’82 hatte ich die Akademie verlassen müssen, ein „mit einem Aufhebungsvertrag kaschierter Rausschmiß“, wie ich es einmal in einer DDR-Geschichte formuliert fand, und arbeitete nun als freiberuflicher Übersetzer aus dem Russischen, ohne Zulassung und ohne die Sprachkenntnisse eines Slawisten. Unangenehmer noch als die Schwimmängste war, dass mich auch auf Brücken das Wasser mit Macht nach unten zog. Da Berlin nicht in der Steppe, sondern an der Spree liegt, kam ich zum Beispiel längere Zeit vom Alex zur Staatsbibliothek Unter den Linden nur noch mit dem 57er Bus.
Mitte der achtziger Jahre wurde der Bahnhof Greifswalder Straße modernisiert und in Bahnhof Thälmannpark umbenannt; ein paar Jahre später, inzwischen war er mein nächstgelegener S-Bahnhof, erhielt er den alten Namen zurück. Ansonsten änderte sich dort zunächst kaum etwas; in der Gaststätte Lohrentz konnte man weiterhin sein Bier trinken, man kann es sogar heute noch, und auch die Puppenbühne gleich neben dem Bahnhof blieb bestehen. Nur die Mauer zwischen dem Bahndamm und dem Gebäudeblock gegenüber dem Bahnhofsfoyer, auf der anderen Seite der Greifswalder Straße, wurde eines Tages abgerissen, denn auf dem Gelände dahinter sollte eine Kaufhalle entstehen. An sich wäre dieser Abriss kein Malheur gewesen; es wuchsen aber Rosenstöcke entlang der Mauer, ein Dutzend vielleicht oder mehr, es war schlecht zu erkennen. Kein Gärtner hatte sich um sie gekümmert, und das war gerade das Beste für sie gewesen: Unbeschnitten wucherten sie in die Höhe und Breite, eine meterhohe Hecke war im Laufe der Jahre herangewachsen, wo es vom frühen Sommer bis weit in den Herbst hinein in allen Rosenfarben blühte und blühte. Davon blieb nicht mehr viel übrig; der Rest fiel ein paar Jahre später dem Bau einer Videothek gleich neben dem Bahndamm zum Opfer.
Schönes, Überraschendes sogar bietet der Bahnhof aber immer noch. Neulich sah ich dort zwei handgroße Elefanten, in der Art japanischer Origami-Arbeiten aus dunkelbraunem Papier gefaltet; der eine war auf einem der Fahrkartenentwerter festgeklebt, der andere auf dem Geldautomaten. Aber von wem? Und vor ein paar Tagen stand am Bahnhofseingang das hölzerne Modell eines Fachwerkhauses, seines Skeletts genauer gesagt, reichlich einen halben Meter hoch. Ich fragte den Zeitungsverkäufer, der es im Blick hatte, wer es wohl abgestellt haben könnte, aber er wusste von nichts. Überhaupt wurde es wenig beachtet, die Leute eilten vorbei und warfen allenfalls mal einen Blick darauf. Recht hektisch geht es auf diesem Bahnhof mitunter zu, denn man steigt hier um die in Straßenbahn M4. Die Haltestelle liegt dem Bahnhofseingang gegenüber auf einer Mittelinsel; man erreicht sie über den Fußgängertunnel oder über die Ampelkreuzung gleich rechterhand. Die meiste Zeit hat dort, auf der Spur direkt am Bahnhof, der Verkehr stadtauswärts freie Fahrt. Es folgen die Linksabbieger, dann die Autos auf der Querstraße. Manchmal fährt nun gerade, wenn die Linksabbieger an der Reihe sind, eine Straßenbahn stadtauswärts in die Haltestelle ein. Und dann rennen die Leute los, die an der Ampelkreuzung stehen, rennen bei Rot über die Straße, obwohl sie die Linksabbieger behindern, rennen, obwohl die Straßenbahn lange genug dort stehen wird. Es wäre wohl zu viel behauptet, würde ich sagen, dass sich hier der wahre, unwandelbare Volkscharakter offenbare. Aber einfach nur lachen über diese Rennerei kann ich auch nicht.