von Manfred Orlick
In meinem Bücherschrank gibt es ein gesondertes Fach für Lyrik. Unter den meist schmalen Buchrücken fällt sofort ein doppeltes Exemplar auf. Ein Versehen? Nein, keine Vergesslichkeit. Die beiden Reclam-Bändchen „Musik auf dem Wasser“ mit Gedichten von Sarah Kirsch stammen aus den Jahren 1977 und 1989. Mit ihrer Unauffälligkeit dokumentieren sie jedoch ein Stück DDR-Politik in den 70er und 80er Jahren. Kurz nachdem die erste Auflage erschienen war, siedelte Sarah Kirsch nach West-Berlin über. Fortan wurden ihre Gedichte im Arbeiter- und Bauernstaat nicht mehr gedruckt. Erst zwölf Jahre später war die Zeit wieder reif für eine Nachauflage.
Sarah Kirsch gehörte zu den bedeutendsten zeitgenössischen Lyrikerinnen des deutschen Sprachraums. Am 16. April 1935 – in diesem Jahr hätte sie ihren 80. Geburtstag gefeiert – wurde sie unter dem Namen Ingrid Bernstein in Limlingerode / Südharz als Tochter eines späteren Fernsehmechanikers geboren. Ein Jahr später zog die Familie nach Halberstadt um, wo sie zur Schule ging und das Abitur ablegte. Anschließend begann sie eine Forstarbeiterlehre, die sie allerdings wieder abbrach. 1954 – 1958 studierte sie in Halle Biologie und schloss das Studium als Diplombiologin ab. Zwischendurch arbeitete sie in einer Zuckerfabrik, in der Heimerziehung und in der Landwirtschaft. 1958 lernte sie den Lyriker Rainer Kirsch kennen, mit dem sie zehn Jahre verheiratet war.
Sie schrieb erste Gedichte und veröffentlichte diese in Zeitschriften, wobei sie das Vornamen-Pseudonym „Sarah“ verwendet. Sie hatte diesen Namen gewählt aus Protest gegen die Verfolgung und Massenvernichtung der Juden im Dritten Reich und gleichzeitig als Absage an den Antisemitismus des wenige Jahre zuvor verstorbenen Vaters.
1963 – 1965 studierte Sarah Kirsch am Leipziger Institut für Literatur „Johannes R. Becher“. Danach war sie freischaffende Schriftstellerin und Mitglied im Deutschen Schriftstellerverband in der DDR. Gemeinsam mit ihrem Mann veröffentlichte sie den Lyrikband „Gespräch mit dem Saurier“, ehe 1967 ihr erster eigener Gedichtband unter dem Titel „Landaufenthalt“ erschien. Rainer und Sarah Kirsch gehörten mit Volker Braun, Heinz Czechowski, Bernd Jentzsch, Karl Mickel und dem Hallenser Dieter Mucke zu den damals 20- bis 30-Jährigen, die eine wahre „Lyrik-Welle“ auslösten und dabei ihren Anspruch auf eigene Sprache und Mitsprache im jungen Staat erhoben. Die junge Garde fühlte sich vor allem der Lyrik Bertolt Brechts, Georg Maurers und Johannes Bobrowskis verpflichtet. Im August 1968 in Prag walzten die russischen Panzer jedoch den Traum von einer sozialistischen Gesellschaft mit menschlichem Antlitz nieder.
Nach ihrer Scheidung zog Sarah Kirsch nach Ost-Berlin und bekam ein Kind. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit arbeitete sie als Journalistin, Hörfunkmitarbeiterin und Übersetzerin. 1973 erschienen ihre „Zaubersprüche“ und die ersten Erzählungen. Als sie sich 1976 mit dem Lyrikband „Rückenwind“ hinter ihren Partner, den West-Berliner Lyriker Christoph Meckel, stellte und außerdem zu den Mitunterzeichnern der Protesterklärung gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann gehörte, wurde sie aus der SED und dem Schriftstellerverband ausgeschlossen.
Im August 1977 siedelte sie in den Westen der Stadt über, und ein Jahr später war sie Stipendiatin in der Villa Massimo in Rom. Ihre „Wintergedichte“ und der Band „Katzenkopfpflaster“ erschienen.
Seit 1983 lebte Sarah Kirsch in Tielenhenn (Schleswig-Holstein). Hier hatte sie die Heimat für ihre Gedichte gefunden, die Realität und Phantasie miteinander vermischen. In der Folgezeit veröffentlichte sie weitere Gedichtbände („Katzenleben“, „Schneewärme“ und „Erlkönigs Tochter“) sowie unzählige Kurzprosawerke („Allerlei-Rauh“, „Schwingrasen“, „Krähengeschwätz“ oder „Märzveilchen“). Es waren ihre erfolgreichsten Jahre, in denen sie mit hochkarätigen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, darunter mit dem Georg-Büchner-Preis (1996) und mit der Ehrenprofessur des Landes Schleswig-Holstein (2006). In den 80er Jahren hatte sie die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes wegen der NS-Vergangenheit des damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens abgelehnt.
Zu ihrem 65. Geburtstag richteten die Deutsche Verlags-Anstalt und der Deutsche Taschenbuch Verlag die erste fünfbändige Werkausgabe ein. Auf über 1.200 Seiten waren ihre Gedichte und die Prosa versammelt, ausgeschmückt mit einigen Aquarellen der Künstlerin. Hier konnte der Lyrikfreund vom frühen „Sarah-Sound“ bis zu den jüngsten „Zeitansagen aus dem Norden“ noch einmal ihrer Natur- und Liebeslyrik lauschen.
Am 5. Mai 2013 verstarb Sarah Kirsch im Alter von 78 Jahren und damit schwieg eine der poetischsten und eigenwilligsten Stimmen.
Sarah Kirsch – „Drostes jüngere Schwester“, wie Marcel Reich-Ranicki sie adelte, – gilt heute bereits als Klassikerin. „Sie ist die Größte“, konstatierte der Kritiker Joachim Kaiser. „Gelassen zumeist, aber nach Kräften unversöhnlich, witzig manchmal, doch auch prosaisch karg, wundergläubig und tapfer verzweifelt abwiegelnd.“ Sarah Kirsch schrieb sich an die Dinge heran, wollte ihnen nah sein, sie zu ihren Dingen machen, zu einer vertrauten Welt und Umwelt. Dies geschah voller Melancholie und Humor zugleich. Ihre Gedichte sind wie ein heimliches Flüstern, das offen gesteht, „wie verzaubert ich bin …“.
Schlagwörter: DDR, Lyrik, Manfred Orlick, Sarah Kirsch