18. Jahrgang | Sonderausgabe | 20. April 2015

„Das Blut des Volkes ist für sie die billigste Munition …“

von Stefan Bollinger

Dimitrije Tucovic, der Begründer der serbischen Sozialdemokratie und guter Patriot seines Volkes, hatte wenige Tage vor seinem Kriegstod nur noch Verachtung für die Staats- und Militärführung und den nun für die Serben schon zwei Jahre dauernden Krieg auf dem Balkan. Denn seit 1912 stand die Halbinsel in Flammen. „Serbien trat ausgelaugt und verbraucht in den Krieg mit Österreich-Ungarn. Das ist der Hauptgrund seiner militärischen Misserfolge. Obwohl der Krieg mit der Zustimmung der Bevölkerung rechnen konnte, hatten unsere Soldaten nach zwei Jahren dieses widerlichen und üblen Unternehmens die Nase voll.“
Der nun Ende Juli beginnende Waffengang war eigentlich der dritte dieser Balkankriege. An der Schnittstelle zweier multinationaler Großreiche mit ihren Hauptstädten Wien und Konstantinopel, die in einer tiefen Krise steckten, suchten die Balkanvölker ihren Platz. Gleichzeitig gab es russische, britische, französische und deutsche Begehrlichkeiten.
Wie bekannt blieb es nicht bei der lokalen, wenn auch blutigen Begebenheit. Diesmal wurde es der Einstieg in den „Großen Krieg“. Nun rangen die führenden imperialistischen Mächte der beiden großen Allianzen um die Vorherrschaft in Europa, um die Neuaufteilung der Welt. Die serbische Sache lieferte zwar die Argumente für diesen Krieg in Wien, Berlin, Moskau und Paris, war jedoch für die anderen Mächte nur Spielmaterial – allerdings mit tödlichen Folgen für eine Million Serben, fast einem Viertel der Bevölkerung des Königreiches.
Aus dieser besonderen historischen und militärstrategischen Konstellation ergab sich ein weit realistischeres, ernüchtertes Umgehen der Serben und ihrer Intellektuellen mit dem Krieg. Bei dessen Ausbruch hatten sie schon weidlich Kriegserfahrung. „Im Unterschied zu ihren Kollegen aus anderen europäischen Staaten, die dem Krieg aus einer jahrzehntelang andauernden Friedensperiode begegneten und im Krieg etwas Heldenhaftes und Romantisches sahen, wovon sie aus Büchern erfahren hatten, nahm der Krieg im Bewusstsein der serbischen Bevölkerung schon vor 1914 die konkrete Gestalt von Tod und Grauen an“, so die Herausgeberin Gordana Ilić Marković.
Ihr Verdienst besteht gerade darin, diesen vergessenen Kriegsschauplatz wieder in den Blick zu rücken. Denn der Erste Weltkrieg fand nicht nur im Westen statt, oder – was gelegentlich ja auch gemerkt wird – in den Weiten des Russischen Reiches. Mit besonderer Intensität und wechselndem Kriegsglück veränderte er die sowieso nur unscharfe Balkan-Landkarte wesentlich. Das hatte zunächst fatale Folgen für die Menschen dort und dann Landzeitwirkungen, die bis heute die politischen Auseinandersetzungen in der Region beeinflussen.
Die Herausgeberin stammt aus Zenica in der heutigen Föderation Bosnien und Herzogowina. Heute lehrt die Slawistin an der Universität Wien. Die Kennerin der serbischen Literatur eröffnet dem Leser Einblicke in die Gefühlswelt und Kriegs- wie Alltagserfahrungen jener Jahre, in die Ambitionen und Enttäuschungen ihrer Intellektuellen. Vielfältige Artikel aus dem vergleichsweise umfangreichen Zeitungsangebot von 80 Printmedien, sehr persönliche Tagebuchnotizen, und diverse künstlerische Verarbeitungen lassen den Krieg plastisch werden. Neben serbischen Autoren wie Tucovic kommen kritische Zeitgenossen, so Karl Kraus oder Egon Erwin Kisch, zu Wort. Der literarisch-publizistische Teil des Buches wird mit zwei gründlichen Aufsätzen von Mile Bjelajac zur Geschichte Serbiens im Weltkrieg und von Anton Holzer zu den Massakern an der Zivilbevölkerung ergänzt.
Der Kriegsverlauf war sehr zwiespältig. Der Angriff der Donaumonarchie Ende Juli 1914 scheiterte kläglich, weite Teile des eroberten Gebietest mussten geräumt werden. Erst 1915 konnte mit deutscher Hilfe das Königreich bezwungen werden, dafür gerieten Bulgarien und Rumänien in den Kriegsstrudel. Serbien wurde von den Mittelmächten besetzt. Es gab nun eine stabile Landbrücke zum verbündeten Osmanischen Reich. Durch die zeitgleiche Niederlage Rumäniens gewann Deutschland endlich Erdöl. Serbien wurde einer harten Besatzung unterworfen, das Verbot des Kyrillischen durch die k.u.k.-Besatzer war noch die harmloseste Folge. Armee und Teile der nationalen Eliten konnten fliehen und sich auf Korfu reorganisieren. Das Land selbst wurde von den Besatzern ausgepresst, Widerstand brutal niedergeworfen. „In Serbien wurde von Anbeginn der Kriegshandlungen an gegen das internationale Kriegsrecht und die Menschenrechte verstoßen“, betont Bjelajac. Immer wieder kam es zu Partisanenkämpfen und 1917 in Toplica zu einem Aufstand. Alle wurden blutig niedergeworfen.
Schließlich kehrten serbische Truppen mit den Streitkräften der Entente siegreich zurück. Serbien gehörte zu den Ländern, die im Sieg die Chance zum Durchsetzen nationaler Ziele sahen. Die bereits vor dem Krieg von Teilen der Eliten und der Intelligenz getragene Idee eines südslawischen Staates wurde in Gestalt des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen umgesetzt, wie bekannt mit wesentlichen Hypotheken belastet.

Gordana Ilić Marković (Herausgeberin): Veliki Rat – Der Grosse Krieg. Der Erste Weltkrieg im Spiegel der serbischen Literatur und Presse, Promedia Verlag, Wien 2014, 272 Seiten, 19,90 Euro.