von Thomas Behlert
Es gibt nur wenige Bands im Osten, um die sich Mythen ranken. Da wird über unheimliche Konzerte philosophiert, einstmals verbotene Texte werden immer noch zitiert oder die Spielweise der Band wird hoch eingeschätzt. Die Puhdys, die nun endlich Abschied nehmen, gehören nicht dazu, City ebenfalls nicht. Renft schon eher, denn sie waren hochmusikalisch, alles sagend und schließlich verboten. Um die Musiker des Berliner Musikensembles Keimzeit, die um die Wende herum sagenhaft lange Konzerte zelebrierten und mit den immer mehr wertenden Fans vollkommen auf einer Wellenlänge in den Sonnenaufgang hinein muszierten, ranken sich noch immer die schönsten Geschichten. Angeblich erkundigten sich die Musiker während des Konzertes bei den Zuschauern nach Schlafmöglichkeiten. Und immer in der Zugabe-Runde erklang der Song, der Keimzeit doch ab und zu für das Radio tragbar macht: „Kling Klang“. Er kommt dann so, wie man ihn seit dem gleichnamigen Album 1990 kennt: Norbert nestelt und nölt, die Gitarre zaubert die Melodie und Roland Leisegang am Schlagzeug lässt die Sticks ganz sachte über das Schlagzeug gleiten. Keimzeit wollte jeder hören und „Kling Klang“ umso mehr. Dann gibt es noch ein bisschen das Lied „Irrenhaus“, das die Welt in ihrem ganzen Wesen aufzeigt. Leider kennt der gemeine Radiohörer nichts anderes mehr von Keimzeit, wenn er nicht auf Konzerte geht, sich nicht die Alben regelmäßig leistet und beim Rundfunk leider kein Redakteur mutig wird. Wo bleiben „Singapur“, „Amsterdam“ oder „Picassos Tauben“? Nur Heino vergewaltigte auf seinem Machwerk „Mit freundlichen Grüßen“ das totgespielte „Kling Klang“ nach allen Regeln der Nichtkunst.
Keiner kann sich so richtig erinnern an „Privates Kino“, „Stabile Währung Liebe“, „1000 Leute wie ich“ oder gar an das wunderbare Album „Zusammen“ aus dem vergangenen Jahr, das Norbert Leisegang mit seiner Band und dem Deutschen Filmorchester Babelsberg einspielte. Was wurde hier nicht gefiedelt, gerockt und gemeinsam gleichberechtigt Musik gemacht.
Nun wagt sich das Sextett an ein neues Album, und das ist gut so. Endlich sind wieder kräftige Bläsereinsätze dabei, die den Liedern die nötige Stärke geben. Der Bass (Hartmut Leisegang) grummelt im richtigen Moment und Schlagzeuger Lin Dittmann, der den Leisegang-Bruder Norbert ersetzte, gibt den Songs neue Haltung und Energie. Alles klingt dicht, kompakt, wie ein frisch hergerichteter Blueskeller voller musikalischer Ideen aus den verschiedensten Genres, die da heißen: Soul, Rock, Funk und Rock`n Roll. Diese Platte passt komplett mit ihren überschwänglichen musikalischen Gaben ins Jahr 2015. Textlich gibt es nichts zu meckern. Norbert L. berichtet im Startlied, das eine Single werden könnte, über die leicht verwirrte Großmutter, die noch Freude am Leben hat und auf einem Esel ins All reitet. Weiter geht es mit „Bekloppt“, das die Tiefen der Menschen beschreibt und am Ende sehr richtige Zeilen anbringt: „Die ganze Welt, wie sich`s gehört / Ist von der Pike auf gestört.“ Immer weiter und weiter läuft das Textband, über den ironisch vergnügten „Staub“-Song zum verwirrenden „Guten Morgen Deutschland“ bis zum irgendwie traurigen Abgesang „Ins Land“.
Möge Keimzeit endlich wieder durch die Radiolandschaft geistern, denn „Kling Klang“ hat sich tot gelaufen.
Keimzeit: „Auf einem Esel ins All“, Comic Helden / Edel, 16,99 Euro.
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