von Franz Schandl
Wenn ich meine eigene Geschichte so rekapituliere, vor allem die Bewegungsjahre in der linksradikalen Szene und im grünalternativen Bereich Revue passieren lasse, dann bin ich einige Jahre geradezu ein Fanatiker der Demokratie gewesen. Das erschien mir ganz selbstverständlich, vor allem auch nach den Erfahrungen des Stalinismus, den ich stets ablehnte. „Keine Demokratie ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Demokratie“ (Oskar Negt), das war auch einer meiner Leitsprüche. Alles kaprizierte sich in mir in einem treuen Bekenntnis zur Demokratie, natürlich einer anderen und radikaleren. Einige Zeit versuchte ich mich gar als Praktiker und Theoretiker der Basisdemokratie.1
Ich konnte nicht genug kriegen. So verstand ich mich als (ein) Gläubiger der Demokratie, als einer, der permanent und penetrant deren Defizite einklagte. Mich erregte, was die Demokratie schuldig blieb, und so projizierte ich alle meine Wünsche ganz selig in sie und meinte sie via sie verwirklichen zu müssen. Mehr Demokratie, das war das, was ich wollte. Ich war da demokratischer als die Demokraten. Die waren schlampiger als ich und erst später merkte ich, dass nicht ich vornweg, sondern eher hintennach war, weil die anderen zumindest pragmatisch mehr begriffen hatten als ich in meinem überdrehten Idealismus. Auch die zehn Jahre Kommunalpolitik in Heidenreichstein haben dazu beigetragen. Inzwischen sind mir die Praktiker der Ohnmacht um einige Nuancen sympathischer als die Priester der Macht. Zur letzten Sorte gehören viele linke Intellektuelle. Zumeist wider Willen.
Dass Demokratie und Diktatur zwar nicht identisch, aber eng verwobene Formen der Kapitalherrschaft sind, wollte mir erst allmählich dämmern. Lenin und Trotzki halfen hier etwas auf die Sprünge. Insofern ist mir auch heute noch der Bolschewismus die liebste Sozialdemokratie. Nun bin ich zwar kein Sozialdemokrat mehr, wollte ja nicht einmal einer sein als ich noch einer gewesen bin. Zu fragen, was Demokratie ist, woher sie rührt, warum sie allseits angebetet und angefleht wird, diese Grundfragen stellten sich mir immer dringlicher. 25 Jahre ist es ungefähr her, dass sich mein steigendes Unbehagen und die Wertkritik ein Stelldichein gaben.
Inzwischen hat mich dieses Leiden an und mit der Demokratie verlassen und ich habe auch keine Phantomschmerzen mehr. Es war aber nicht enttäuschte Liebe, sondern vielmehr der Prozess einer Ernüchterung, der da vor langer Zeit eingesetzt hat und noch immer andauert. Demokratie ist jedenfalls die verfänglichste und klebrigste Kategorie des bürgerlichen Ebensoseins, sie pickt an allem und haftet an jedem. Nichts ist so anlassig wie die Demokratie. Die allgemeine Ergriffenheit zeigt an, dass das Loskommen schwierig ist. Für viele unvorstellbar. Demokraten, das sind wir doch alle.
Auch wenn ich einiges in diesem Wandlungsprozess noch nicht richtig zu fassen kriege, so demonstriert er mir doch eindeutig, dass die Demokratie nur noch in Sackgassen verweist. Mit ihr ist kein anderer Boden beschreitbar als der vorhandene. Demokratie führt ins Gehabte. Und davon habe ich wahrlich genug. Perspektiven gibt es nur jenseits von ihr, nicht in ihr. Democrazy, das war einmal. Zuneigung zur Demokratie wird zusehends nekrophil. Es ist Leichenliebe für Unentwegte. Wer heute noch demokratiebewegt ist, sollte sich nach 1848 beamen lassen. Doch selbst dort könnte einem unser junger Genosse Friedrich Engels über den Weg laufen und forsch meinen: „Aber die bloße Demokratie ist nicht fähig, soziale Übel zu heilen. Die demokratische Gleichheit ist eine Chimäre, der Kampf der Armen gegen die Reichen kann nicht auf dem Boden der Demokratie oder der Politik überhaupt ausgekämpft werden.“
Dogmatisch wie ich bin, wage ich aber keine Gegenrede.
- Nachzulesen in: Franz Schandl/Gerhard Schattauer, Die Grünen in Österreich, Entwicklung und Konsolidierung einer politischen Kraft, Wien, Promedia 1996, S. 371-386. ↑
Schlagwörter: Basisdemokratie, Demokratie, Diktatur, Franz Schandl