von Lutz Unterseher
„Ich war neunzehn“ ist der Titel einer DEFA-Produktion des Regisseurs Konrad Wolf aus dem Jahre 1968. Der Film, der alsbald DDR-Kult wurde, fußt auf der Biografie Wolfs, der als Junge mit seinen kommunistischen Eltern vor den Nazis nach Moskau geflohen war und als Leutnant der Roten Armee das Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland erlebt hatte.
Im Film heißt er Gregor Hecker, gespielt von Jaecki Schwarz. Er gehört zu einer kleinen Gruppe von Rotarmisten, die kurz vor Kriegsende mit einem Lautsprecherwagen auf einem Hügel in Stellung gegangen ist, um von dort aus verstreute Wehrmachtssoldaten zur Aufgabe aufzufordern. Tatsächlich gelingt es, die anfänglich zögernden Soldaten dazu zu bewegen, sich zu ergeben und die Waffen abzulegen. Aus dem Rinnsal der Kapitulanten wird ein Strom, und es türmen sich die abgelieferten Gewehre, Maschinenpistolen und Pistolen zu einem stattlichen Berg.
Plötzlich taucht in einiger Entfernung motorisierte Waffen-SS auf, und es geht auf das Idyll der Kapitulation ein Hagel von Geschossen nieder. Gemeinsam mit einigen der frisch gefangenen Wehrmachtssoldaten, die sich als Vertreter der bewussten deutschen Arbeiterklasse outen, wollen die Rotarmisten das Feuer erwidern. Eine neue Waffenbrüderschaft ist begründet. Die Nachtigall trapst.
Aber mit welchen Waffen zurückschießen? Haben doch die Gefangenen ihre abgegeben und sind doch die Rotarmisten, als Teil einer Politeinheit, nur unzureichend ausgestattet. Die Lösung: Gemeinsam bedient man sich aus dem Haufen abgelegten Geräts und nimmt einige Sturmgewehre (StG 44), um mit Feuerstößen die SS zu vertreiben. Im Film ist zu sehen, wie Rotarmisten und deutsche Soldaten schießend nebeneinanderliegen, das StG 44 in der Hand. Es folgt ein Schnitt.
Die Kamera zeigt zwar immer noch die spontane Kameradschaft, aber nun mit Sturmgewehren vom Typ Automat Kalaschnikow: einer sowjetischen Waffe, die als AK 47 erst 1947 die Serienreife erreichte.
Wollte Wolf mit dieser symbolischen Metamorphose die sowjetisch inspirierte Zukunft der deutschen Arbeiterklasse beschwören? Wohl kaum. Das wäre denn doch ziemlich weit hergeholt. Wahrscheinlicher, dass ein abgefeimter DEFA-Waffenmeister auf die Verwandtschaft der beiden Gewehre und auch darauf hinweisen wollte, welches das Original ist.
Tatsächlich ist die Verwandtschaft der beiden Waffen unverkennbar: Ähnlichkeit von Abmessungen und Erscheinungsbild, gebogenes Magazin mit 30 Schuss, Gasdrucklader (Ladeautomatik nicht auf Basis des Rückstoßes, sondern des Gasdrucks, der beim Schießen entsteht) und vor allem ähnliche ballistische Leistung durch Nutzung einer „Mittelpatrone“.
Die Idee der Mittelpatrone ist bereits in den frühen 1920er Jahren in der Reichswehr geboren worden. Damals wurden die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg ausgewertet, und man kam zu dem Schluss, dass die Infanteriebewaffnung typischen Gefechtssituationen – dem Grabenkampf oder etwa dem Schießen von einem Fahrzeug aus – nicht mehr angemessen war: die Pistolen und Maschinenpistolen unzureichend in Schussdistanz und Wirkung – die langen Standardgewehre zu unhandlich, mit einer Reichweite, die über das Notwendige hinausging, und einem Rückstoß, der die Waffe bei automatisiertem Schießen kaum noch beherrschbar machte.
Der Ausweg aus diesem Dilemma bestand darin, die Patrone des damaligen deutschen Infanteriegewehrs (Modell 98) zu verkürzen. Es wurden entsprechende Versuche durchgeführt, und es entstand die Mittelpatrone. Damit konnten nach Mitte der 30er Jahre die Entwicklungsarbeiten an Waffen beginnen, die gleichsam um die neue Munition herum gebaut wurden.
1941/42 waren zwei konkurrierende Prototypen fertig, die 1943 in Hunderten von Exemplaren zum Test an die Ostfront gingen. Die danach ausgewählte Waffe erhielt die Bezeichnung MP 43. MP stand für Maschinenpistole, obwohl doch gar keine Pistolenmunition verschossen wurde. Der Grund? Es ging darum, Adolf Hitler zu täuschen, der sich gegen die Entwicklung neuer Gewehre für die Truppe ausgesprochen hatte. Doch gelang es dem Rüstungsminister Albert Speer, den geliebten Führer umzustimmen: Die Waffe wurde ihrer taktischen Natur gemäß nun als Sturmgewehr bezeichnet und nach kleineren Modifikationen ab 1944 als StG 44 in Großserie hergestellt (über 400.000 Stück). Etliche Tausend davon erhielt nach dem Krieg die Kasernierte Volkspolizei (KVP). Damit war die KVP besser ausgerüstet als die junge NVA, die über das Jahr 1960 hinaus noch sowjetisches Altgerät aufbrauchen musste. Der ab 1947 gebaute Automat Kalaschnikow ging zunächst nämlich nur an die Sowjetarmee.
Auch der AK war, wie bemerkt, um eine Mittelpatrone herum konstruiert worden. Diese Patrone hatte man während des Zweiten Weltkrieges durch Verkürzung der Munition des sowjetischen Infanteriegewehres (91/30) geschaffen, das in seinen Leistungen jenen des Modells 98 in etwa entsprach. Der AK 47 unterschied sich bei gleicher Grundkonzeption vom StG 44 nur durch die Holzschäftung und den Verschlussmechanismus. Dennoch gilt die Waffe vielen immer noch als eigenständige Entwicklung eines „Erfinders“ namens Michail Kalaschnikow. Wir erkennen darin den Geist Stalins, des großen Hüters Nationalen Kulturerbes (NKE). Dem war nämlich der Nachweis ein Herzensanliegen, dass wesentliche „Menschheitserfindungen“ russischen Ursprungs seien. Im heutigen Russland hat diese Facette Stalinschen Denkens eine schöne Renaissance.
In den – allerdings in ihrer Echtheit nicht gesicherten – Memoiren des Dmitri Schostakowitsch wird solcherlei Obsession dadurch ironisiert, dass eines der Kapitel mit „Russland: Heimat der Elefanten“ überschrieben ist.
Kalaschnikow wurde 1919 als Kulakensohn in Sibirien geboren. Er überlebte den Stalinschen Terror, durchlief eine Technikerausbildung, erlitt zu Anfang des Großen Vaterländischen Krieges als Panzersoldat eine schwere Verwundung und arbeitete sich zum Leiter eines Kollektivs von Waffenkonstrukteuren hoch. Das durch dieses Kollektiv „russifizierte“ Sturmgewehr erlebte einen Siegeszug. Mit dem AK 47 wurde eine „Familie“ begründet, der etliche verkürzte Varianten, ein (sehr) leichtes Maschinengewehr und auch eine Waffe angehören, die nach US-Vorbild kleinkalibrige Hochgeschwindigkeitsmunition verschießt: AK 74 mit seinen Spielarten.
Von allen Varianten sind insgesamt wohl bis zu 100 Millionen Exemplare gebaut worden, mehr als die Summe aller anderen Sturmgewehre auf der Welt. Die meisten Kalaschnikows kamen aus der Sowjetunion und der Volksrepublik China, doch gab es auch eine beträchtliche Produktion in einigen Ländern der Warschauer Vertragsorganisation. Bis auf die ČSSR führten die Armeen all dieser Staaten die berühmten Waffen. (In der NVA hieß das Sturmgewehr „Maschinenpistole“, vermutlich nicht als Hommage an den Führer Adolf Hitler gemeint.)
Gegenwärtig bilden Varianten des AK 74 die Infanteriebewaffnung der russischen Armee. Millionen älterer Kalaschnikows werden noch in den Armeen kleinerer Staaten genutzt, etwa in Afrika, oder dienen Bürgerkriegsparteien und Terroristen rund um den Globus. Was begründete den Siegeszug der Kalaschnikows? Die Qualität? Oder nicht doch eher nur die fast unbegrenzte Verfügbarkeit nach Ende des Kalten Krieges?
Zu notieren bleibt, dass die AK-Familie im Laufe ihres Lebens bei Ballistiktests mehrfach schlechter abschnitt als Konkurrenzmodelle. Doch Kleinoligarch Kalaschnikow hatte sich mit den Mächtigen gut vernetzt, und die konservative Sowjetarmee scheute einen Wechsel in der Massenbewaffnung. So obsiegte unser Mann aus Sibirien.
Generalleutnant Dr. h.c. Michail Timofejewitsch Kalaschnikow starb 2013. Im hohen Alter gab er seiner „Bestürzung“ darüber Ausdruck, dass mit seinen Waffen so fürchterlich viele Menschen um Leben oder Gesundheit gebracht wurden. Und in einem Gespräch mit deutschen Journalisten sprach er der „deutschen Waffentechnik“ en passant seine Hochachtung aus. Demenz oder Einsicht des Alters? Auf jeden Fall: Nicht die Partei, aber die DEFA hatte immer Recht.
Schlagwörter: DEFA, Konrad Wolf, Lutz Unterseher, Michail Kalaschnikow, Sturmgewehr, Zweiter Weltkrieg