18. Jahrgang | Nummer 4 | 16. Februar 2015

Religion und Toleranz

von Hermann-Peter Eberlein

Es muss im Jahre 1991 gewesen sein, anlässlich des Golfkrieges, da moderierte ich im Wuppertaler Schauspielhaus eine Podiumsdiskussion zu Lessings Toleranzstück „Nathan der Weise“. Mit von der Partie war der Marburger Theologieprofessor Peter Steinacker, später Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau. Sein Schlussvotum hat mich seither nicht mehr losgelassen: Lessings Lösung, die Frage nach der Wahrheit zu dispensieren, sei eine aufklärerische Illusion und für keine der drei monotheistischen Religionen akzeptabel. Seither bin ich vollmundigen Äußerungen anderer hochrangiger Vertreter der beiden großen christlichen Kirchen gegenüber misstrauisch, Religion und Toleranz, speziell Christentum und Toleranz, passten zusammen. Nun ist der Toleranzbegriff vielschichtig, hat juristische, politische wie gesellschaftliche Facetten, die auszuleuchten ich mich nicht anheischig mache – immerhin besteht eine gewisse Übereinstimmung dahingehend, dass Toleranz im vollen Sinne mehr ist als bloße Duldung: nämlich Anerkennung des anderen mit seinem Glauben, seiner Überzeugung, seiner Lebensart. Die Genese der Idee religiöser Toleranz in der frühen Neuzeit nun belegt, dass religiöser Glaube und religiöse Toleranz in diesem Sinne auch im Christentum nicht kompatibel sind. Ich beschränke mich auf zwei Beispiele.
Nach der Verbrennung des spanischen Arztes Michael Servet als Ketzer in Genf 1553 unter hervorragender Beteiligung Johannes Calvins kam es zu einer literarischen Kontroverse, die man als den Beginn neuzeitlicher Toleranzbestrebungen betrachten kann. Ausgelöst wurde die Debatte durch den Basler Humanisten Sebastian Castellio, einst Calvins Freund und nun sein erbitterter Gegner. Er lässt 1554 unter dem Titel „De haereticis an sint persequendi“ (Ob Ketzer verfolgt werden sollen) eine Anthologie von Texten erscheinen, die sich gegen die Tötung von Ketzern aussprechen. Im Vorwort wird Ketzerei nicht mehr an einer Wahrheit festgemacht, sondern ideologiekritisch entlarvt als Nicht-Übereinstimmung mit der eigenen Meinung. Die Wahrheiten der Religion sind „dunkel und verwirrt, ihrer Natur nach geheimnisvoll und bilden noch nach mehr als tausend Jahren den Gegenstand eines unendlichen Streites“ – also: „Dulden wir einer den andern und verurteilen wir nicht den Glauben eines andern!“ Castellio steht damit in der Nachfolge des Erasmus von Rotterdam, der sich in seinem Streit über die Willensfreiheit Luther gegenüber ebenso auf die Dunkelheit der Heiligen Schrift berufen hatte. Der Streit zwischen Castellio und den Genfer Theologen zog sich über mehrere Runden hin; der bis heute gültige Spitzensatz Castellios zum Thema kann nicht oft genug wiederholt werden: „Einen Menschen töten heißt nicht, eine Lehre verteidigen, sondern einen Menschen töten.“
Interessant ist an dieser Stelle nicht so sehr, dass Toleranz einer kirchlichen Autorität gegenüber eingefordert wird – das ist im Europa der frühen Neuzeit überall nötig. Interessant ist die weitere Entwicklung Castellios, weil sie die innere Konsequenz des Toleranzgedankens aufzeigt: Sein letztes großes Werk, bis heute nicht ins Deutsche übersetzt, heißt „De arte dubitandi et confidendi, ignorandi et sciendi“ (Über die Kunst zu zweifeln und zu vertrauen, nicht zu wissen und zu wissen). Toleranz also relativiert den eigenen Standpunkt und bewirkt dadurch Zweifel. Für Castellio bleibt daher nur die Vernunft als Maßstab der Erkenntnis – damit weist er der Aufklärung den Weg, die ein Jahrhundert später den zweiten großen Propagandisten des Toleranzgedankens hervorgebracht hat: Pierre Bayle.
Auch er entstammt dem calvinistischen Milieu; nach der Aufhebung des Edikts von Nantes durch Ludwig XIV. hat er in Genf und später in den Niederlanden Zuflucht gefunden. Als erster will er das Toleranzprinzip universell gelten lassen. Selbst Atheisten sind zu schützen, denn: „Eine Gesellschaft von Atheisten würde die bürgerlichen und moralischen Tugenden ebenso gut wie die übrigen Gesellschaften realisieren.“ Auch Bayle, dessen größtes Werk sein „Dictionnaire historique et critique“ geworden ist, der Vorläufer der Encyclopédie Diderots und d’Alemberts, kommt am Ende zu einem skeptischen Relativismus, der in religiösen Fragen allein die „klaren und deutlichen Erkenntnisse der Vernunft“ gelten lässt.
Nun ist uns der Optimismus, im Bereich der Religion könne man mit Erkenntnissen der Vernunft irgendetwas bewirken, inzwischen gründlich abhanden gekommen – das macht ja gerade das Eigentümliche religiöser Erfahrungen aus, dass sie sich rationaler Bewertung entziehen. Das Forum der Vernunft ist unzuständig. Gleichwohl zeigen die Beispiele Castellios und Bayles: Wer den anderen duldet, ihn gar anerkennt, muss den eigenen Wahrheitsanspruch relativieren. Einer aber, der wirklich mit vollem Herzen glaubt, kann solche Relativierung nicht zulassen. Darum ist es Unsinn, wenn Kirchenführer die Fähigkeit zur Toleranz und zum Dialog auf Augenhöhe „im selbstbewussten Darbieten des Eigenen“, in einem festen Glaubensstandpunkt sehen. Nein! „Toleranz ist der Verdacht, dass der andere Recht hat“ (so Tucholsky), und nicht ich. Glaubensgewissheit und Toleranz gehen nicht zusammen.
Das gilt umso mehr, wenn ein Glaube eine gesellschaftsprägende Gestalt gewinnen will. Dies ist beim politischen Islam der Fall, beim klassischen Calvinismus und bei der katholischen Kirche. Alle diese Richtungen haben die Vision einer Gesellschaft, die sich einer dem Glauben inhärenten Ethik unterwirft, mindestens anpasst; diese Vision können sie nicht aufgeben, ohne ihren Glauben zu verleugnen. Im klassischen Luthertum mit seiner Lehre von den zwei Reichen sieht es anders aus (dies mit seinen Vorzügen und Nachteilen zu diskutieren sprengte den Rahmen), in überwiegend mystischen oder quietistischen Religionsformen auch. Doch Kirchenführer sprechen in der Regel nicht die Sprache der Stillen im Lande, sondern verfolgen Interessen. Dazu gehört, die Vereinbarkeit von Religion und Toleranz für sich zu behaupten und von anderen einzufordern. So steht man in der Öffentlichkeit gut da und kann auf die anderen mit dem Finger zeigen. Dabei fehlt den Kirchen bei uns zum Realisieren ihrer Visionen schlicht nur die Macht. Peter Steinacker einst war da ehrlicher.

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