von Holger Politt, Warschau
Niemals sollte Feliks Tych erfahren, was der Vater kurz vor dem Tod über die Deutschen gedacht hatte. Beim Abschied hatte der gemeint, er kenne die Deutschen, die seien anders als es in den Hitlerreden scheine. Der Sohn solle sich keine Sorgen machen, man werde sich wiedersehen. Die christliche Familie, die den jungen Feliks aufnahm, rettete ihn vor Treblinka.
Viele Jahre später erinnerte Feliks Tych an seinen Vater – im Deutschen Bundestag, am 27. Januar 2010. Der Junge aus Radomsko hielt die wichtigste Rede seines langen Lebens. Geladen ins deutsche Parlament wurde er an diesem Gedenktag auch deshalb, weil er von 1995 bis 2006 das renommierte Jüdische Historische Institut als Direktor geleitet hatte. In dieser Institution ist mit dem Emanuel-Ringelblum-Archiv aus dem Warschauer Ghetto eines der erschütterndsten Erinnerungsstücke der Weltgeschichte aufbewahrt.
Im Frühsommer 2006 besuchten Ilsegret und Heiner Fink das Institut, sprachen dort länger mit seinem Direktor. Beiläufig kam die Rede auf das Besuchsprogramm in Warschau. Die Finks berichteten, wie sie auch nach Treblinka gefahren seien, diesem stillsten Ort auf dieser Welt, und wie tief sie das Erlebnis ergriffen habe. Niemand der anwesenden Deutschen konnte ahnen, welch tiefer Graben der Erinnerung in diesem Moment sich zwischen ihnen und Feliks Tych auftat.
Von Beruf war Feliks Tych Historiker, sein Gegenstand die Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung, vor allem die Zeit bis 1918. Das führte ihn in den 50er Jahren nach Moskau. Stalin war längst tot, die Archive, in denen zu Hauf wichtige Dokumente der polnischen Arbeiterbewegung lagern, begannen sich zaghaft zu öffnen. Feliks Tych stieß dort auf den wohl größten Fund seines Historikerlebens – auf fast 1000 Briefe, die Rosa Luxemburg an Leo Jogiches geschrieben hatte. Nachdem er diesen Fund zwischen 1968 und 1971 in drei Buchbänden veröffentlicht hatte, stand die Rosa-Luxemburg-Rezeption weltweit auf anderen Füßen.
Zu Leo Jogiches kehrte er intensiver in den 1990er Jahren zurück. Alle staatlichen Institutionen, die in Polen zur Geschichte der Arbeiterbewegung geforscht hatten, waren faktisch aufgelöst. An Geldmittel für die Erforschung des Lebensweges einer der herausragenden Köpfe der polnischen und europäischen Arbeiterbewegung war in Polen vorerst nicht mehr zu denken. Stiftungsgelder aus Deutschland glichen den Mangel aus. Ziel war es, eine umfassende politische Biographie des engsten Kampfgenossen von Rosa Luxemburg auf den Markt zu bringen. Es sollte aufgezeigt und nachgewiesen werden, wieviel Rosa Luxemburg dem Wirken dieses Mannes zu verdanken hatte.
Wird die legendäre Anfangszeit der beiden von 1893 bis 1896 betrachtet, lässt sich kaum sinnvoll auseinanderhalten, was aus wessen Feder stammen soll. Meistens wird es bis heute Rosa Luxemburg zugeschlagen, was nicht falsch ist, doch fehlt dann eben der andere Teil. Feliks Tychs Absicht war, diese Dinge weitmöglich so zu rekonstruieren, dass hinter der weltberühmten Rosa L. auch die geistige Physiognomie ihres Liebhabers und politischen Mentors sichtbarer wird.
Da das politische Pendel in Polen aber 1993 und 1995 ein wenig zurück- und damit recht eigentlich auch wieder vorwärtsgestellt wurde, blieb es nicht aus, dass man sich des bekanntesten Historikers der polnischen Arbeiterbewegung erinnerte, als es den Posten eines Direktors des Jüdischen Historischen Instituts zu besetzen galt. Für Feliks Tych waren die kommenden elf Jahre die Krönung des beruflichen Werdeganges, der allerdings ein Opfer forderte – die angefangenen Arbeiten zu Leo Jogiches konnten nicht fortgesetzt werden, sie blieben unvollendet.
Ein eher schmales Bändchen sei hier besonders herausgestellt, auch wenn der Leser Polnisch können muss: „Der lange Schatten der Vernichtung“. Es enthält historische Skizzen von Feliks Tych, die von den gravierenden Auswirkungen der Judenvernichtung auf die polnische Gesellschaft handeln. Eine Studie befasst sich mit dem polnischen März 1968, als aus vermeintlich antizionistischen Beweggründen eine handfeste antisemitische Kampagne erwuchs, in einem Land, in dem so etwas ohne den Segen und die Unterstützung entscheidender Regierungsstellen gar nicht stattfinden konnte. Die Zusammenhänge sind heute in Polen gründlich erforscht, liegen auf dem Tisch – es sind zweifellos Abgründe, die sich da auftun.
Doch darf an dieser Stelle hinzugefügt werden, dass die erste große öffentliche Kampagne in Polen, in der offener Judenhass und perfider Antisemitismus für politische Zwecke gebraucht wurde, 1910 Leo Jogiches und Rosa Luxemburg traf. Deren politische Richtung sollte aus der heimischen Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, indem erklärt wurde, das ideologische Gift, das beide den polnischen Arbeitern verabreichten, sei viel schädlicher und gefährlicher als der Schnaps, den ihre Vorfahren einst ausgeschenkt hätten.
Zu den beeindruckenden Büchern, die Feliks Tych als Forscher der Judenverfolgung und -vernichtung herausgegeben hatte, gehört eine Sammlung mit Dokumenten zum Schicksal der in der Sowjetunion in der Zeit des Zweiten Weltkriegs deportierten polnischen Juden. Für die meisten, die im Herbst 1939 nach Osten zogen, war es die Wahl des kleineren Übels. Typisch war aber, dass zu Tausenden auf das sowjetische Angebot eingegangen wurde, 1940 wieder an die angestammten Wohnorte im jetzt deutsch besetzten Teil Polens zurückgebracht zu werden. Der unterschriebene Antrag bedeutete jedoch in der Praxis die sofortige Deportation nach Sibirien, zumeist in die Welt des Gulags. Von den etwa 350.000 polnischen Juden, die den Zweiten Weltkrieg überlebten, gelang dieses 250.000 in der Sowjetunion. Wer die Zusammenhänge anhand dieser Dokumente näher betrachtet, begreift, wie wenig dies ein Ruhmesblatt der Sowjetunion gewesen war.
Feliks Tych starb am 16. Februar 2015.
Schlagwörter: Deutschland, Feliks Tych, Holger Politt, Judenvernichtung, Leo Jogiches, polnische Arbeiterbewegung, Rosa Luxemburg, Sowjetunion