18. Jahrgang | Nummer 4 | 16. Februar 2015

Das griechische Drama

von Stephan Wohanka

Denkt man Griechenland, dann fällt einem unwillkürlich das Drama ein. Das Drama (δράμα, dráma, „Handlung“) ist ein Oberbegriff für Vorgänge auf Bühnen mit verteilten Rollen. Im in Rede stehenden Drama haben wir es mit einer Vielzahl von Spielorten und Rollen zu tun – das Land selbst, EU, IWF, Troika, die Medien, Merkel und was der Charaktermasken mehr sich auf verschiedenen Bühnen tummeln. Von letzterer ist vielen noch ihr Prolog vom Frühjahr 2010 in den Ohren, für die Rettung Griechenlands gäbe es „keinen Cent“ aus Deutschland…
Nach der Poetik des Aristoteles kennt das griechische Drama vor der Katastrophe das so genannte retardierende Moment. Es lässt beim Publikum nach der Peripetie (dem Wendepunkt der Handlung) kurz die Hoffnung keimen, das Unheil lasse sich doch noch ab- und alles zum Guten wenden. Die Amtszeit des griechischen Premiers Antonis Samaras war das retardierende Moment. Von Brüssel und Berlin aus betrachtet sah es einige Zeit so aus, als könne der konservative Regierungschef, vom Populisten-Saulus zum Pragmatiker-Paulus mutiert, das seit einigen Jahren von der EU und dem IWF zwangsverwaltete Land auf einen halbwegs vernünftigen Kurs bringen. Samaras’ Bilanz: Nach Analysen der Weltbank und des Weltwirtschaftsforums ist Griechenland nicht wirtschaftsfreundlicher und auch nicht weniger korrupt als vorher. Es wurde versäumt, auch nur irgendetwas zu tun, um griechisches Auslandsvermögen, mindestens in einer Gesamthöhe der Staatsschulden, zumindest teilweise als unternehmerisches Investitionskapital nach Griechenland zu holen. Griechenland hat heute, trotz des partiellen Forderungsverzichts der Gläubiger, absolut höhere Schulden als vor fünf Jahren. Einige Schnäppchenjäger, die sich da und dort billig eingekauft haben, kann man nicht als Trendsetter für Auslandsinvestitionen verkaufen.
Jetzt haben wir die Katastrophe! Für die einen Protagonisten, eher auf entfernteren Bühnen agierend, liegt sie darin, dass die linke Syriza des Alexis Tsipras regiert. Für die anderen am unmittelbaren Ort des Dramas ist Tsipras der charismatische Held und die Katastrophe liegt darin, dass mehr als 25 Prozent Arbeitslosigkeit und etwa 60 Prozent Jugendarbeitslosigkeit das Land nahezu lähmen. Und das bei einer durch den – auch Samaras’schen – Sparkurs tief verarmten griechischen Bevölkerung.
Syriza also die Drohung für die bisherige Politik der EU schlechthin! Warum das aber nun genau eine Position ist, die die Politik quasi unisono und die Medien in ihrer überwiegenden Zahl einnehmen, wird (noch) nicht recht klar – noch ist die Handlung ja nicht entscheidend vorangekommen, obwohl Tsipras seiner Rolle einen unerhörten Spieleifer gibt. In den Medien werden die Griechen wahlweise als Kindergarten, als Geisterfahrer (Alexis Tsipras) oder finanzpolitischer Erziehungsfall betrachtet – es ist die immer gleiche pädagogische Rhetorik, die in derartigen Fällen zur Anwendung kommt; der Versuch einer Volkserziehung, die das Gegenteil von Politik ist: Prinzipienreiterei anstatt Praxis, Dogmatismus anstatt Pragmatismus.
Im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise ist hierzulande eine Logik der angeblich notwendigen Maßnahmen entstanden, die ihre Entsprechung findet in einer Publizistik, die in ihrer Argumentation immer enger, egoistischer, nationaler geworden ist und damit zu einem Sprachrohr der Alternativlosigkeit, direkter Abklatsch Merkelscher Politik.
Wie sonst wäre es etwa zu erklären, dass in angelsächsischen Medien wesentlich realitätsnäher darüber gesprochen wird, wie man mit Griechenland verfahren solle, warum ein Schuldenschnitt nicht nur notwendig, sondern im System angelegt sei, und wie die Deutschen 1953 selbst von einem solchen Schuldenschnitt profitiert hätten. Griechenland war eines der Länder, das damals auf seine Ansprüche teilweise verzichtete; das deutsche „Wirtschaftswunder“ hätte es anders nicht gegeben. Verbunden war der Verzicht mit einer Vereinbarung, dass die jährliche Rückzahlungen Deutschlands maximal drei Prozent des Exportvolumens ausmachen durften – IWF und Weltbank halten dagegen heute im Fall von Griechenland zwischen 15 und 25 Prozent für tragbar! In der Financial Times wird darauf hingewiesen, dass bisher nur elf Prozent der „Hilfszahlungen“ bei der griechischen Regierung ankamen, der Rest ging mehr oder weniger direkt an die Banken, die einen „Bail-out“ bekamen, auf den die Bevölkerung seit Jahren wartet.
Dabei ist es gut zu wissen, dass der frühere IWF-Chef für Europa, Reza Moghadam, dafür plädiert, den Griechen im Gegenzug zu Reformen die Hälfte der Schulden zu erlassen. Desgleichen ist es nicht weniger interessant, wenn auch der Chef der Bank of England davor warnt, Griechenland weiter in der Schuldenfalle zappeln zu lassen. Deshalb interessant, weil schon ein klein wenig Logik ausreicht, um zu verstehen, dass es kein guter Weg sein kann, wenn die Konsumausgaben der Griechen in den vergangenen Jahren um mehr als 40 Prozent geschrumpft sind und die Staatschulden sogar noch zugenommen haben, weit über den im „Rettungskonzept“ vorgesehenen Rahmen. Stattdessen beharrt nicht nur die deutsche Politik, sondern auch die EU auf der Austeritätspolitik, die zur wirtschaftlichen Bedrohung der Mittelklasse in vielen Ländern Europas geführt hat.
Dabei gibt es durchaus Lichtblicke: Auch wenn bislang nur wenige der tatsächlich notwendigen Reformen umgesetzt wurden, um zur Katharsis vorzudringen und das Land nicht ganz der Verdammnis anheimfallen zu lassen – so hat es Griechenland nach sechs langen Jahren 2014 aus der Rezession geschafft. Die EU-Kommission assistiert dem Land laut Herbstprognose ein Wachstum von 2,9 Prozent. Um diesen Erfolg zu verstetigen, sollte endlich zumindest die nach wie vor fehlende effiziente Steuerverwaltung und ein alle Griechen einschließendes Steuersystem installiert werden. Und ich denke, dass Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis, sein exotischer Finanzminister, im Gegensatz zu früheren Charaktermasken des griechischen Dramas die Kraft und die Unterstützung des Volkes dazu haben, dies durchzusetzen!
Neben einem – wie erwähnt – strahlenden Helden gibt es auch einen tragischen Helden im Drama – EZB-Präsident Mario Draghi: Er wird nicht nur für das Wahlergebnis in Griechenland verantwortlich gemacht. Es heißt auch, dass er die Währungsunion gefährdet. Gescheitert ist aber nicht Draghis Eurorettung, sondern Merkels Dramaturgie vulgo Krisenpolitik.