18. Jahrgang | Nummer 5 | 2. März 2015

„Dajewesen“

von Dieter Naumann

Die Schillings prägten als Leuchtturmwärter, Gastwirte und hochdekorierte Lebensretter über drei Generationen das Leben am Kap Arkona auf der Insel Rügen.
Die Tradition begann mit Carl Eduard Schilling, der als ehemaliger Schiffszimmermann schon beim Bau des so genannten Schinkelturms dabei war, auf dem er ab 1828 den Dienst als preußisch beamteter Leuchtturmwärter („Lichtmann“, „Lampenwärter“) übernahm. Dieses bei oberflächlicher Betrachtung eher idyllisch erscheinende Amt erwies sich bald als echter Knochenjob: Einer Instruktion zufolge hatte Schilling „alles im gehörigen Stande zu erhalten, und müssen demnach die ausgebrannten Dochte gehörig eingezogen, die Lampen gehörig gefüllt und eingehängt, die Scheiben des Turmes sowie auch die Scheinwerfer der Lampen abgewischt und so oft es nötig ist, gehörig geputzt werden“. Allein das Putzen der ständig verrußten Rüböl-, später Petroleumlampen nahm viel Zeit in Anspruch. Damit nicht genug, bald musste Schilling per Flaggen und Scheinwerfer Nachrichten mit den vorbeifahrenden Schiffen austauschen, Windrichtung und -stärke überprüfen, Wasserstand, Salzgehalt und Temperatur des Wassers messen und dazu über eine eiserne Leiter zum Strand hinunter- und wieder hinaufsteigen. Nach einer Ausbildung im Morsen übernahm Schilling zusätzlich die Telegrafenstation am Kap und wurde schließlich auch noch Vorsteher der „Kriegsküstenbeobachtungsstation“.
Schilling, der mit Frau und Kindern anfangs recht spartanisch das Erdgeschoss des Leuchtturmes mit Küche, Kammer und Wohnzimmer bewohnte, vermietete „nebenbei“ zwei Räume im Obergeschoss und betrieb eine kleine, zunächst ebenfalls im Turm untergebrachte Gastwirtschaft. Jahre später kaufte Familie Schilling Land hinzu, errichtete 1862 nahe am Turm das Wohnhaus und einige Wirtschaftsgebäude und baute eine der Scheunen zum Logierhaus aus, das Sohn Eduard erweiterte und von dessen später angebauter „goldener Veranda“ die Gäste „Arkonas weiße Nächte“ und morgens den Sonnenaufgang genossen.
1855 gab Schilling sein „Neues, einfaches Kochbuch für Mädchen und Hausfrauen, oder deutliche Anweisung, nahrhafte und wohlschmeckende Speisen auf gute und doch sparsame Art zu bereiten, nebst einem Anhange, allerhand nützliche und für jede Hauswirtschaft wichtige Mitteilungen und Vorschriften enthaltend“ heraus. Die „wichtigen Mitteilungen“ bestanden zum Beispiel in Hinweisen, wie man Hühnernester leicht entdeckt, oder in der Beschreibung von Mitteln gegen Seekrankheit. Da Schilling gern „einen hinter die Binde“ goss, gab es auch einige Rezepte mit alkoholischen Spezialitäten. Übrigens war Schilling überhaupt nicht verlegen, wenn er auf seine wohl dem Alkoholgenuss geschuldete bläuliche Gesichtsfärbung angesprochen wurde. Er begründete sie damit, dass er in seinem Amt häufig auf die blaue Ostsee sehen müsse …
Der überwiegend als kauzig beschriebene, hin und wieder sogar respektlos und grob selbst gegenüber „hochgestellten“ Gästen auftretende Schilling war nicht nur ein bekanntes Rügener Original, sondern auch mehrfach ausgezeichneter Lebensretter. Zwischen 1866 bis 1881 soll er bei mindestens 130 Strandungen auf den Untiefen am gefährlichen Kap im Einsatz gewesen sein. Zusammen mit seinen Söhnen und Rügener Fischern habe er 60 Menschen vor dem Ertrinken gerettet, wobei bei einem dieser Einsätze einer seiner Söhne 1847 ums Leben kam. Für ihren selbstlosen Einsatz wurden Schilling, sein Sohn Johann Carl und Schwiegersohn Carl Hinrich Lückow im gleichen Jahr vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. mit der Rettungsmedaille am Band gewürdigt, eine Auszeichnung, die Schilling 1833 bereits von König Friedrich Wilhelm III. erhalten hatte.
Schwer vorstellbar, wie Schilling, über den erstaunlich wenige Lebensdaten bekannt sind (weder Geburts- und Sterbedatum noch die Grabstelle; einige Quellen verweisen auf 1903 als Sterbejahr und ein angebliches Erbbegräbnis in Altenkirchen), dies alles unter einen Hut bringen konnte.
Etwa ab 1843 wurde durch Sohn Eduard das Gästebuch des Schillingschen Gasthauses eröffnet, in das sich Postminister Heinrich von Stephan, der spätere Chirurg Theodor Billroth, Komponist Johannes Brahms, Maler Adolph Menzel, Schriftsteller Theodor Fontane, Komponist Richard Wagner, Dichter Gerhart Hauptmann, der spätere Reichskanzler Otto von Bismarck, Preußenkönig Wilhelm IV. und andere Persönlichkeiten eintrugen. Elisabeth von Arnim, die bekannte zeitgenössische Rügenreisende, fand, das Gästebuch sei „entschieden das Beste, was Arkona besaß“.
Leider sind die Bücher wohl im Zusammenhang mit dem Konkurs von Otto Schilling in die Hände des Dransker Gutsbesitzers Karl Klinke gelangt und seitdem verschollen, vermutlich wurden sie 1945 zusammen mit anderen Dokumenten verbrannt. Wie auch immer, unsere fragmentarische Kenntnis ihres Inhalts gründet sich auf die Notizen von Prof. Paul Meinhold, der – selbst häufiger Gast am Kap – 1907 bei Nagel in Stettin Auszüge „Aus Arkonas Fremdenbüchern“ veröffentlichte. In dem nur 59 Seiten umfassenden Büchlein würdigt Meinhold „natürlich“ vor allem die Eintragungen der hochgestellten Persönlichkeiten wie Friedrich Wilhelm, dessen viele schwungvolle Schnörkel um das „Friedrich Wilhelm“ „von seinem königlichen Selbstgefühl und seiner künstlerischen und künstlichen Veranlagung“ zeugen.
Auch „normale“ Gäste ergingen sich im Fremdenbuch in patriotischen Ergüssen, wie ein Karl Str. aus Treptow a. R., dessen achter und letzter Vers in Betrachtung des Schinkelschen Leuchtturmes lautet:

Ein Licht, wenn alle beben
In Wetternacht und Graus,
Ein Staat, ein Ziel, ein Streben.
Hoch Deutschlands Kaiserhaus!!!

Dankenswerterweise hat es Meinhold nicht bei der Registrierung derartiger selbstdarstellerischer Deutschtümeleien belassen und für sein Büchlein auch andere Eintragungen ausgewählt: Ein sächsischer Zeitgenosse, offenbar wenig berührt von Rügens landschaftlicher Schönheit oder aber vom Heimweh geplagt, vermerkte im schönsten Dialekt:

Wasser – Felsen – Beeme!
Darheeme bleibt darheeme!

Die deutsch-jüdische Dichterin Else Lasker-Schüler war dagegen schon eher vom Flair der Insel beeindruckt und soll sich im Fremdenbuch mit den Worten verewigt haben:

Ich lag auf dem Meer, über mich wälzte sich das Licht …
Ich lag allen Tälern im Schoß, umklammerte alle Berge, aber nie meine Seele erwärmte mich …
Und mein braunes Auge blüht halb verschlossen vor meinem Fenster und zirpt.

Ob diese etwas „aufgeladene“ Poesie ernst gemeint war oder eher ein Spaß sein sollte, lässt sich nicht mehr klären. Ein Kunstbanause vermerkte jedenfalls respektlos:

Unsinn, Auguste, heiraten musste!

Als die Schillings begannen, die Namenszüge mehr oder minder bedeutender Persönlichkeiten im Fremdenbuch blau zu markieren, schrieb Hermann Valentin, Mitglied des Berliner Lessing-Theaters, ironisch an seinen Namenszug: „Bitte mich einige Jahre später blau anzustreichen“.
Obwohl ich ihn nie kennengelernt habe und auch Recherchen keine Aufhellung seiner Person bringen konnten, ist mir ein Fähnrich mit seiner Eintragung am sympathischsten. Erfrischend kurz, im Gegensatz zu vielen anderen Gästen ohne Redundanz und sofort auf den Punkt kommend, teilte er den nachfolgenden Gästen und der Nachwelt 1887 mit:

Dajewesen!