18. Jahrgang | Nummer 1 | 5. Januar 2015

Querbeet (XLVIII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Münchner Eheschlacht, allerhand Sex und ein Papst in Leipzig, Jahrhundert-Feier am Berliner Bülow-Wessel-Liebknecht-Luxemburg-Platz…

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Edward Albees Beziehungskrisen-Schocker von anno 1962 „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ gilt als Mutter aller Eheschlachten. Vor der Premiere verkündete Regisseur Martin Kusej, Chef des Bayerischen Staatsschauspiels, es werde eine „ganz große Liebesgeschichte“ gespielt – dann blieb es aber doch beim wie üblich kräftigen Hauen und Stechen, Kloppen und Kotzen.
Das Schlachtfeld im Münchner Residenztheater präsentiert sich minimalistisch quasi als Laufsteg in aseptischem Weiß, umsäumt von massenhaft geleerten Gläsern und Alk-Flaschen. Ein Scherbenhaufen, schmerzend grell ausgeleuchtet. Der Krieg sozusagen wie auf dem Seziertisch. Dabei wird der raffiniert gebaute, rasende, dennoch tief ins Seelische aber auch Gesellschaftliche lotende Text der Krieger zerstückelt in einzelne Tableaux. Also zwischen jedes Gefecht ein harter Blackout; das hat was Lehrstückhaftes – die Kurzpause zum Nachdenken. Und immer, wenn die Szenen sich in den ganz großen Schrecken steigern und es lichterloh zu brennen und schlimm zu bluten beginnt, kommt das Stopp. Kommt das pädagogische Innehalten in der Dunkelheit; kommt die schwarze Kurzpause. Und dann Neuanlauf, Fortsetzung. Und so weiter die drei tollen Akte durch.
Das freilich macht den irrsinnigen Sog der Duelle kaputt, dämpft die Wucht des Stücks, stört seine emotionale Dynamik, den Psychoterror, die Spannung und den Fluss des Zusammenspiels der starken Protagonisten. Und alles zusammen verringert tieferen Erkenntnisgewinn. Es ist halt ein Clinch grob mit dem Holzhammer statt fein mit dem Florett. Ja, man spielt, was vielleicht zeitgemäß sein soll, besonders schnell, hart, kalt. Und bleibt gerade deshalb immer nur an der Oberfläche. Trotzdem, der Abend liefert einige faszinierende Momente gekonnter Spielkunst, wird aber nicht groß, was schade ist – bei dieser super Besetzung mit Bibiana Beglau und Norman Hacker, Johannes Zirner und Nora Buzalka.

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Zwei Ausstellungen in Leipzig. Erstens: Im Zeitgeschichtlichen Forum erzählt die Ausstellung „Schamlos“ davon, wie wir im Lauf der Zeiten aufhörten, uns zu schämen; ordentlich sortiert nach DDR und BRD. Was da in mir hängen bleibt, ist das Hausfrauenbild im Westen nicht nur in der Nachkriegszeit (Heimchen am Herd) und das DDR-lockere FKK-Leben; über die zeigefingerhaften „Zehn Gebote der sozialistischen Moral“ hat man eigentlich nur gegrinst im Osten. Aber: Unter Genossen konnte es beim Fremdgehen schon mal im Parteiverfahren enden, derweil man im 1968er Westen öffentlich Kommune-Leben und Gruppensex feierte, was man im Osten klammheimlich betrieb, wenn man nur wollte und wusste wo und wie. Im Westen galt das als große Bürgerverschreckung, im Osten war das politisch sehr viel grundsätzlicher dissidentisch; politisch war es freilich hier wie dort. Die Durchsetzung der Pille geschah im Osten ziemlich selbstverständlich, das brauchte keine „Emma“-Kampagne, keinen demonstrativen Großkampf wie drüben. Dass der Osten keine sozialistische Beate-Uhse-Industrie kreierte, mag man bedauern, dass er keine Pornoindustrie hatte, erscheint uns heutzutage, bei einschlägiger Überschwemmung, als geradezu segensreich.

Zweitens: Um die Ecke vom Forum im Museum der bildenden Künste eine Sensation: „Bernini. Erfinder des barocken Rom“; eine Fülle grafischer Blätter, eine spektakuläre Sammlung, die vor langer, langer Zeit in Leipzigs goldenen Bürger- und Business-Zeiten durch Ankauf in die Bestände kam und seither vor sich hin schlummerte. Jetzt wurde der Schatz aus dem Keller geholt. Jetzt strahlt er! Darunter eine winzige Unvergesslichkeit: Die Karikatur des kränkelnden Papstes Innozenz XI. Ein waagerechter, zittriger Strich (die Bettdecke), im rechten Winkel aufrecht ein kurzer dürrer Leib wie ein knorriges Stückchen Holz, scharfe Nase, riesige Papst-Tüte auf dem Vogelköpfchen. Letzte Energie und Größe und das groteske, traurige Elend der allgemeinen Sterblichkeit. Grausam. Wunderbar.

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„Ach Volk, du obermieses, / Auf dich ist kein Verlass. Heute willst du dieses, / Morgen willst du das…“ So reimte einst der große Schreiber Peter Hacks (1928-2003), der nicht allzu viel hielt vom Volk, dafür umso mehr von rigider Volksbeglückung durch Obrigkeit. – „Ach Volk, du obermieses“ ist das kecke Motto von Jürgen Kuttners Gedenkrevue zu 100 Jahre Volksbühne am Bülow-Wessel-Luxemburg-Platz. Die ist immerhin von Obrigkeitsdenken völlig, von Volksverarsche nicht gänzlich frei.
Es war der bereits anno 1890 („gegen Zensur“) gegründete, von sozialdemokratischer Kultur- und Bildungspolitik inspirierte Verein Freie Volksbühne, der 24 Jahre später, nämlich 1914, ohne jegliche staatliche Beihilfe das dann von ihm eigenverantwortlich betriebene Theater namens Volksbühne erbauen ließ. Architekt war der Star seiner Zeit Oskar Kaufmann (1873-1956), dem Berlin das Theater am Kurfürstendamm (zerstört, vereinfacht nach 1950 wieder aufgebaut) und das Renaissancetheater (original erhalten) verdankt. Die Kaufmannsche Volksbühne war natürlich keine kleine Vereinshütte, sondern ein enorm repräsentatives (Arbeiter- und Sozi-Stolz), hochmodern ausgestattetes und großräumiges (geräumiger als die Kaiserliche Hofoper) Zwei-Ränge-Theater für 2.000 Leute mit Orchestergraben, Riesenbühne, kostbarer Art-déco-Ausstattung und großzügigen Salons und Foyers; auf Befehl der Russen wurde es gleich nach 1945 im pompösen Sowjet-Stil wieder aufgebaut (der Marmor in den Foyers kam aus Hitlers zerstörter Reichskanzlei); die DDR gab dem Haus nach einem Umbau Ende der 1960er Jahre sein heutiges Gesicht als klassisch-antikes Amphitheater.
Zurück zu den Volksbühnen-Anfängen. Der rasch massenhaft Zulauf findende Verein Freie Volksbühne (ein weltweit singuläres, in seiner Vorbildlichkeit bewundertes Projekt!!) stand stets im produktiven Widerspruch zwischen Spektakel, Klassiker-Verehrung und politischem Theater, zwischen „Volksbildung“ und „revolutionärem Avantgardismus“ – locker selbstironisch mag Peter Hacksens Volksbetrachtung dazu passen. Davon ließ sich unser nervensägendes Plappermaul Kuttner leiten beim Zusammenbasteln seines verschnipselten Jubiläumsprogramms. Dieses und jenes also grob gemischt. Das meiste an historisch wirklich Relevantem fiel dabei freilich kühn unter den reichlich mit Flitter bestreuten Tisch. Aber Kutti sagte ja selbst, die glitzernde Show verhalte sich wie eine Zehn-Euro-Rolex zur Original-Rolex. Sollte das nun tröstend oder (selbst)vernichtend gemeint sein?
Immerhin, die Kurzformel „PBC“ (Piscator, Besson, Castorf) wird lax beschworen, Max Reinhardt, Heiner Müller, Manfred Karge, Henry Hübchen (bloß über Video), Brecht, Ursula Karusseit (der die Brecht-Erbin Barbara Schall-Brecht zu DDR-Zeiten die „Mutter Courage“ verweigerte, „diese Schlampe zieht nicht den Planwagen von Mutter Weigel“). Aber auch Hitler (als Puppe, die eine Rrrrede schnurrt und Grönemeyer grölt), auch Nazi-Intendant Klöpfer und Juri Gagarin, Silvia Rieger und René Pollesch kommen kurz vor. ‑ Oskar Kauffmann, der mutige Gründerverein Freie Volksbühne, Martin Wuttke, Milan Peschel, Bernhard Schütz, Corinna Harfouch, Kathrin Angerer oder Werner Schroeter, Jürgen Gosch, Marthaler, Gotscheff, Kresnik und Fritsch kommen nicht vor. Auch nicht Klaus Wowereit, der bis ans Ende seiner Amtszeit die drängende, quälende Castorf-Nachfolge und damit die Zukunft dieses immer mal wieder die Welt bewegenden Theaters frech im Dunkeln ließ. Was nach 2016 wird, scheint Berlin Wurscht zu sein.
Also ein Stückchen Welttheatergeschichte als bunter Abend. Ein bisschen dieses und jenes, allerhand Blödelei, dazu etwas Tiefsinn in homöopathischer Dosis und etwas Krisengeplapper. Für das Quantum abgründige Dekoration (das vermeintliche Salz im süßlich kunterbunten Kuttner-Teller), dafür sorgte der prima Chor der Werktätigen mit apokalyptischem Singsang (nach „Eve of Destruction“): „Schon morgen kann es geschehn / Und wir sind am Ende.“ – Kann sein, kann auch nicht sein. Aber noch wurde, auch beim Video-Mitmach-Ulk, viel dümmlich gekichert und herzlich gelacht. Aber ein paar Leute liefen gelangweilt davon. Doch solch souveränes Publikumsverhalten gehört ja angeblich zum kultigen Wesen dieses Theaters.

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Und hier mein frommer Neujahrswunsch husch-husch, gereimt vom weisen Wilhelm Busch:

Will das Glück nach seinem Sinn
Dir was Gutes schenken,
Sage Dank und nimm es hin
Ohne viel Bedenken.

Jede Gabe sei begrüßt,
Doch vor allen Dingen:
Das, worum du dich bemühst,
Möge dir gelingen.