18. Jahrgang | Nummer 2 | 19. Januar 2015

Querbeet (XLIX)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein geschmähter Regiestar, eine Verheutigungsfalle, Operettenwahnsinn sowie Unheimlichkeiten im Souterrain…

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„Thomas Ostermeier nähert sich den Worten – für mich die treffendste Art und Weise – wie ein Musiker oder Choreograph. Sein Theater ist vollkommen organisch, getrieben von der Bewegung des Lebens, seinem Rhythmus, seinen Brüchen. So führt er die Schauspieler in ihre tiefsten Tiefen und lässt die Texte, die er auswählt, strahlen.“ Das sagt die gegenwärtig wohl berühmteste und meistgespielte Bühnenautorin, die Französin Yasmina Reza, über den Chef der Berliner Schaubühne. Für ihn schreibt sie an einem neuen Stück, handelnd von einer Seitensprung-Beziehung hinter der Fassade feiner Bürgerlichkeit. „Bella Figura“ wird im Mai 2015 unter Ostermeiers Regie an seinem Haus am Kurfürstendamm uraufgeführt werden – mit Nina Hoss, Mark Waschke, Renato Schuch und Lore Stefanek.
Der fließend französisch sprechende Regiestar und in Umfragen der deutsche Lieblingskünstler der Franzosen arbeitet regelmäßig in Frankreich; 2009 wurde er vom französischen Kulturministerium zum „Officier des Arts et des Lettres“ und vor kurzem erst zum „Commandante des Arts et des Lettres“ ernannt; die Verleihung des höchsten Ordens dieser Kategorie findet demnächst statt.
Und: Seit einigen Wochen gibt es ein Interview-Buch mit Ostermeier von Gerhard Jörder in der Reihe „backstage“ im Verlag Theater der Zeit, Berlin (151 Seiten, 18 Euro).
Ostermeier, Jahrgang 1968, Sohn eines Bundeswehr-Offiziers aus Süddeutschland, gilt im Ausland als „das Gesicht des modernen deutschen Theaters“, als ein auf seine Schauspieler konzentrierter Regisseur „der neuen Bürgerlichkeit“. Seine Inszenierungen werden auf Tourneen in allen Kontinenten gefeiert. Trotzdem nörgelt die veröffentlichte heimische Kritik beständig an seiner Arbeit, so auch an der jüngsten, der Inszenierung von Lillian Hellmans Gesellschaftsdrama „Die kleinen Füchse“; eines meiner faszinierendsten Theatererlebnisse 2014. – „Meine Ästhetik ist einfach nicht angesagt“, erklärt er. „Alles lineare, realistische Erzählen wird schlicht als TV-Realismus etikettiert und abgetan.“ Diese Engstirnigkeit, diese Borniertheit breiter Kreise der auf Destruktionen und Verfremdungen erpichten und in gewisser Weise dogmatisch gefärbten Fachkritik irritiert und erschreckt. In Jörders Interview-Büchlein erfährt man mehr dazu; auch über die Kluft zwischen hoch gelahrten, komplex kritischen Theaterwissenschaftlern, die Ostermeier so gern die kalte Schulter zeigen, und den Heerscharen interessierter Theatergänger, die Ostermeier feiern, der mit seinen Arbeiten immerhin (weltweit) für stets ausverkaufte Vorstellungen sorgt. Zugleich erfährt man natürlich noch allerhand über die Arbeitsweise dieses Künstlers, der in den ausführlichen Gesprächen eine packende Selbstdarstellung liefert – und obendrein eine aufschlussreiche Momentaufnahme vom Zustand des hiesigen Bühnenbetriebs.

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Arthur Schnitzler im Deutschen Theater Berlin! Endlich. Und nun gleich zwei Mal Klassiker hintereinander: Nämlich erst (verunglückt) Ibsens „Frau vom Meer“, dann Schnitzlers „Weites Land“. Ich finde ja, dieses Theater ist – auch bezüglich seines Ensembles und erst recht durch seine Tradition – prädestiniert für Klassiker. Das DT könnte – wenn es das denn nur wollte! – sich konzentrieren auf die weltbedeutenden Altvorderen und sich damit profilieren. Viele Klassiker überzeugend spielen als unsere weisen Zeitgenossen, das wäre ein prima Alleinstellungsmerkmal. Zugegeben, das ist nicht eben leicht und flott zu kriegen. Wäre aber eine grandiose Herausforderung. Oder haben die Regisseure Angst vor weltbedeutenden Autoren-Autoritäten?
Also Arthur Schnitzler (1862-1931) und „Das weite Land“ (1911, Burgtheater Wien). Der Titel meint das Land der Seele; Sigmund Freud im Theater statt auf der Couch. Prompt baute der Bühnenbildner Florian Lösche einen riesigen Kletterturm aus Ledersofas für Action oder eben „Klassiker“-Auflockerung und muntere Vergegenwärtigung. Die Schauspieler dürfen fleißig rauf und runter kraxeln. Die Regisseurin Jette Steckel, der wir am DT einen tollen Sartre („Schmutzige Hände“) verdanken, die vertraut nämlich diesmal überhaupt nicht dem Text und tappt dabei erstaunlich dümmlich in die „Verheutigungsfalle“.
Außerdem meint sie immerzu, dabei dem modischen Mainstream folgend, das beim Publikum mehrheitlich beliebte gute alte und – wenn es denn richtig gemacht ist – enorm wirkungsmächtige Einfühlungs- oder Illusionstheater konterkarieren zu müssen. Deshalb schiebt sie immer wieder lustige Zirkusnummern ein und sportives Herumrennen und lässt mühselig Distanzen aufbauen gegen das Illusionistische des Theaterspiels – auch mit Popmusik als Stimmungsmache und mit Richard Wagners „Tristan“-Akkorden als Zuckerchen für Bildungsbürger.
Alles Mätzchen. Aufhübscherei, die Schnitzler überhaupt nicht nötig hat. Schließlich gibt er eine spannende, hochtrabend gesagt: gesellschaftspolitisch relevante Story vor (das sexuelle Durcheinander, der steife Hochmut und die coole Lieblosigkeit gutbürgerlicher Kreise). Man muss das nur spielen. Und die Spieler könnten das auch, wenn man sie nur in Ruhe machen ließe, damit sie wirklich eintauchten in den sprachlich genauen und spielerisch tiefgründigen Text. Stattdessen aber müssen sie sich auf den Oberflächen ihrer Figuren abrackern. Müssen unentwegt so tun (auch sprachlich), als seien sie gerade mit dem Kaffee-to-go aus dem Food-Shop von um die Ecke gekommen. Und damit tappen sie schnurstracks in besagte „Verheutigungsfalle“. Dazu passend ihre schäbig zeitgenössische (Berlinische?) Kostümierung (T-Shirt, Röhrenjeans, Feinripp-Unterwäsche, Turnschuhe). Doch dann duellieren sie sich und wollen mit dem Norddeutschen Lloyd abhauen nach Amerika (statt mit Air Berlin oder Lufthansa). Da klappt’s nicht recht mit der Verheutigung und wirkt einfach nur doof. Wie die unentwegt lächerliche, weil krampfhafte Behauptung, dass alles bloß (uraltes) Theater, Theater, Theater und also unecht sei. Dabei haben wir schon an der Theaterkasse beim Kauf des Billets vereinbart: Ist alles nur Theater, keiner stirbt dort in echt.

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Es macht ja fast gar keinen Sinn, für Berlins Komische Oper zu werben – ist immer ausverkauft. Erst recht ihr Operetten-Betrieb, den Barrie Kosky, der für Tradition und Historisches sonderlich empfängliche neue Intendant, quasi als Hausmarke etabliert hat an diesem prächtig neubarocken Haus. Hier wurde einst unter Walter Felsenstein das realistische Musiktheater (neu) „erfunden“ (als Gegensatz zur Rampensingsang-Oper). Und wo einst, in Zeiten des späten Kaiserreichs sowie der Weimarer Republik, die Berliner Operette üppig blühte und weithin ausstrahlte.
Jetzt also, nach „Ball im Savoy“ und „Clivia“ (und dem Musical „Westside Story“) Jacques Offenbachs „Schöne Helena“, das, so Regisseur Kosky, Mutterschiff der Operette, eine Antikenparodie und Satire auf das Zweite Französische Kaiserreich. Das freilich interessierte Kosky weniger. Ihm ging es um das bis heute Relevante: Die groteske Komödie des Ehebruchs (die schöne Helena lässt ihren flauen Gatten Menelaos sitzen und brennt mit dem flotten Paris frech durch).
Das schnurrt denn auch wie geölt über die Bretter (leider etwas holprig übersetzt, die geniale Translation von Peter Hacks wurde verpasst). Doch die Garnierung ist der Knaller: nämlich der totale Jux, die tobende Ironie. Dazu die große Musik (Offenbach!), die glitzernde Verpackung in Nonsens – the biggest show in town neben dem benachbarten Revue-Tempel Friedrichstadtpalast. Ja, es geht kess und „camp“ zu in Koskys neuer Hauptabteilung Operette des rasenden Berliner Musiktheaterbetriebs. Kess, aber gekonnt. Eine gigantische Gute-Laune-Manufaktur! Elegant, frivol, sexy!

Hinweis für Berlin und seine Touristen: Die Komische Oper veranstaltet von Ende Januar bis Anfang Februar ein opulentes Operettenfestival und zeigt auf einen Ruck alles, was es derzeit dazu gibt im Haus. Ein toller Coup! Ein so luxuriöses wie singuläres Unterfangen – ohne Übertreibung: es dürfte in Qualität und Umfang in Europa seinesgleichen suchen. Und mittendrin im Happening natürlich noch eine Premiere: Die Kammerspiel-Operette „Eine Frau, die weiß, was sie will!“ von Oscar Straus; Uraufführung war 1932 im legendären Berliner „Metropol“ (der heutigen Komischen Oper) mit der sagenhaften Fritzi Massary. Jetzt spielen in diesem verrückten Ding zwei Personen dreißig Rollen: Die große Dagmar Manzel und Max Hopp, ein Wahnsinns-Duo; Regie: Kosky, musikalische Leitung: Adam Benzwi. Wer’s verpasst, der darf sich schwarz ärgern.

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Der österreichische Film- und Theatermacher Ulrich Seidl hat einen selten scharfen Blick auf die Abgründe in uns; auf groteske Seelenverrenkungen, fürchterliche Verdrängungen wie fröstelnde Ernüchterungen. Viele können das kaum aushalten, nennen es skandalös, denunziatorisch, voyeuristisch („Ekelfim“) – wie jetzt auch sein neues Opus „Im Keller“.
Vor einiger Zeit führte uns Seidl schon einmal in einen Keller, in dem viele so gern ihr vermeintlich ganz Normales ausleben, was aber unschwer als das Abgründigste oder Aberwitzigste oder bloß Verrückte auszumachen ist. Grenzüberschreitung. Und dieser Keller stand auf der Theaterbühne. Es ging damals um das Stück „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ vom US-Kultschreiber David Foster Wallace, das in einem öden Herren-Hobby-Keller spielt. Dort sporteln, saufen, singen, fummeln sie und lassen schwitzend alles raus, was sie seelisch und sexuell quält. Grausige Gelüste, dreckige Gemeinheiten, unfassbare Zwänge sowie unendliche Traurigkeiten tun sich auf. Und entsetzliche Verlorenheiten. Der brave und böse Mann als Mensch und als Bestie – Abscheu hält sich mit Mitleid die Waage. Das ging, so gelassen wie präzise inszeniert, nicht in die Hose, sondern an die Nieren.
Und das ist jetzt wieder so, bei Seidls neuem dokumentarisch anmutenden, freilich so ästhetisch perfekt wie unaufdringlich oder geradezu unheimlich selbstverständlich inszenierten Film „Im Keller“. Nur eins ist anders als im Theater: Diesmal geht es nicht allein um Herren, sondern um Allerweltsmenschen beiderlei Geschlechts, die sich da in den Untergeschossen ihrer hübschen Häuschen oder feinen Miet- und bescheidenen Sozialwohnungen diversen neonazistischen, extrem-sexuellen, quasi-religiösen Obsessionen oder bloß unschuldigen Einsamkeitsverzweiflungen hingeben. Eine wahrlich schrecklich unterhaltsame (und nicht weniger aufklärerische) Kamerafahrt durch das nur wenige oder ganz viele Treppen tiefe Souterrain der obenauf ganz braven und gemütlichen Wohnzimmerseelen. – Seidl wäre nicht Seidl, wenn er seinen Film voller unglaublicher, aber offensichtlich doch heimlich-alltäglicher Realitätsbeobachtungen nicht ausgerechnet in die so anheimelnd besinnliche Jahresendzeit ins Kino gebracht hätte. Passt aber auch unheimlich gut zum Jahresanfang-Schmuddelwetter.

Hören Sie diesen und andere Beiträge zukünftig auf Radio Wanderbuehne. Informationen dazu finden Sie hier.

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