17. Jahrgang | Nummer 25 | 8. Dezember 2014

Späte Wanderung

von Renate Hoffmann

Als Hans Christian Andersen (1805-1875) im Sommer 1831 nach Deutschland reiste – man hatte es ihm anempfohlen, um der trüben Stimmung zu begegnen, die ihn länger schon plagte – unternahm er eine „Grand Tour“, die so nicht geplant war. Eines ergab sich jedoch aus dem anderen. Er sah die großen Städte und erlebte die Naturlandschaften der Lüneburger Heide, vom Harz und dem Elbsandsteingebirge. Am Ende der Rundfahrt schrieb er, beseelt von den gewonnenen Eindrücken: „Die Ferne ist doch des Lebens magisches Zauberland.“
In Dresden, der Stadt, die ihm vertraut erschien, als habe er sie irgendwann bereits im Traum betreten, besuchte er gleich am ersten Tag den norwegischen Maler Johan Christian Clausen Dahl (1788-1857). Gemeinsam folgten sie einer Einladung des Dichters Ludwig Tieck (1773-1853). Dieser nun schwärmte vom „Erhabenen“ und „Schönen“ der nahe gelegenen Bergwelt und weckte in Andersen den Wunsch, die „Sächsische Schweiz“ zu erkunden.
Die kleine Reisegesellschaft nahm eine „Gondel“, fuhr elbaufwärts, stieg aus, stieg ein und wanderte rechts und links des Flusses. Der dichtende Däne bestaunte himmelragende Felsen, tiefe Schluchten und Bachtäler, düstere Höhlen – und die weite Sicht übers Land, als er auf der Bastei stand. „Die ganze Natur war mir eine große lyrische, dramatische Dichtung in jedem möglichen Versmaß.“ Man ging auch ins „Böhmische“ hinüber. Zum Prebischtor.
Andersens Schilderungen erweckten in mir einen ähnlichen Wunsch. Doch mein Beweggrund war nicht, vorhandene Trübsal zu bekämpfen, sondern Neubegier. – Als ich auf die Reise ging, sömmerte es kaum noch, der Herbst schaute ins Elbtal mit seinen ihm dienenden Gesellen: Buntheit noch, doch auch Nieselregen, Nebelbänke und frühe Dämmerung. In Schmilka-Hirschmühle, dem Haltepunkt nahe der Grenze zu Tschechien, wandelt sich die Nieselei in einen gleichmäßig fallenden Starkregen. Die Fahrt übers Wasser an das rechte Ufer erinnert an Zeilen, die der Dichter an einem trüben Regentag (dem meinigen vergleichbar) notierte:
Der Regen rauscht, grau ist des Himmelsbogen
Und dicht verhüllt die fernen Berge stehn,
Die Elbe kommt vom Böhmerland gezogen,
Doch ihre Fluten gelb und trübe sehn.
Ich wandere im Regen und im Nationalpark „Sächsische Schweiz“, der sich östlich in der Schutzregion „Böhmische Schweiz“ fortsetzt. In seiner Gesamtheit gilt das Landschaftsgebiet als größter europäischer „Sandstein-Canyon“. – Die Straße nach Hřensko (Herrnskretschen) im „Böhmischen“ ist kaum befahren, vielleicht der regennassen Stunde geschuldet. Die Gebäude der Grenzstation stehen leer. Am Ortseingang und dem Zufluss der Kamenice (Kamnitz) in die Elbe belebt sich das Bild. Entlang der bunten Häuser stehen dicht bei dicht Verkaufs- und Souvenirstände, die sich in das Tal der Kamenice hinein ziehen und am bewaldeten Ortsausgang enden.
Der Weg zum Pravčická braná, dem Prebischtor, steigt und steigt. Rinnsale und tropfende Bäume begleiten ihn. Kein Vogelruf in der herbstlichen Stille, in die nur von fernher ein Uhrenschlag dringt. Die reiche Flora des Nationalparks tut sich mit dem Abschied schwer. Sie ist noch nicht sommermüde. Farnwälder mit ihren grazilen Wedeln säumen den Wanderpfad, Moose und Flechten überwachsen Wurzelstöcke und gefallene Buchenstämme. Pilzkolonien besiedeln sterbendes Holz.
Der Nachmittag schreitet voran, Nebel senkt sich, und der Anstieg wird schmaler. Geäst streift mich. An den Felspartien rinnen kleine Bäche. Andersens fantastische Welt beginnt lebendig zu werden. Wald und Buschwerk, Heidegestrüpp und pittoreskes Gestein und Wasserlachen proben eine mystische, gespenstische, märchenhafte, sagenähnliche, schaurige und doch bezaubernde Szene.
Zurück in die Wirklichkeit. Ich stehe vor dem Prebischtor. Wie ein antiker Bau überspannt es wuchtig den Felsblock; das Werk jahrmillionenalter Erosion. Die Ausmaße zeugen von der Gewalt des Naturdenkmals. Spannweite: 26,5 Meter; lichte Höhe: 16 Meter; maximale Breite: acht Meter; Torbogenstärke: drei Meter. Beschrieben als natürliche einzigartige, europäische Sandsteinbrücke, die nicht ihresgleichen kennt. Wahrzeichen der Region, Anziehungs- und Aussichtspunkt für Naturfreunde und wandernde Künstler auf Motivsuche. Da der Nebel seinen Vorhang dichter zieht, verlasse ich mich, was die Ausblicke betrifft, auf den Bericht des dänischen Reisenden: „Und dann die wilde Felspartie, das Prebischtor, wo wir unter dem kühnen, steinernen Bogen standen, den der mächtige Naturgeist keck über unsern Häuptern gewölbt hatte. Ich sehe die unübersehbaren schwarzen Waldungen tief unter uns und die fernen Berge mit ihrem Schnee, den kräftige Sonnenstrahlen beleuchten.“
Die schönen Fernsichten und das wuchtige Felsgebilde hatte man beizeiten entdeckt und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Ausschank mit Erfrischungen für rastende Wanderer eingerichtet. Der Dichter konnte demnach bereits in der Sonne sitzen und seiner Begeisterung freien Lauf lassen. 1881 hatte der Besitzer der Herrschaft, Fürst Edmund von Clary-Aldringen, eine andere Idee. Er ließ das bescheidene Wirtshaus abreißen und an dessen Stelle das Hotel „Falkennest“ mit 50 Betten erbauen. – Es klebt wahrhaftig wie ein Vogelnest am Felsgewänd. Man ist besorgt um seinen Halt. Ein Schlösschen, angelehnt an den Chalet-Stil, mit bogengestütztem Unterbau und einer darüber liegenden Loggia, von zierlichen, schmuckreichen Säulen getragen. Für Ausflügler ein genussvoller Verweilort. Für mich nicht – es ist Schließtag.
Ehe die Dämmerung den Abstieg unsicher macht, lenke ich meinen Schritt wieder talwärts. Feiner Regen fällt. Erneut begegne ich Hans Christians Trugbildern, in die sich Baum und Strauch auf wundersame Weise verwandeln. – Auf der Promenade von Hřensko leuchten schon die ersten Lichter und werfen ihre Strahlen in kleine Pfützen.
Wenn Hans Christian Andersen betont, die Ferne sei das magische Zauberland des Lebens, so gibt es daran keinen Zweifel. Wenn aber darüber hinaus die Gewissheit besteht, in der warmen Pension seine nassen Sachen zu wechseln, so hat das auch seinen magischen Zauber.

P.S.: Und wer in diesem Herbst keine Gelegenheit hatte, sich die „Sächsische Schweiz“ selbst zu erwandern, der kann das zu Hause in der warmen Stube bei einem Glühwein kompensieren. Mit einem Hörbuch aus der edition Sächsische Zeitung – Hans Christian Andersen: Bericht einer Reise in die Sächsische Schweiz, wunderbar gelesen von Walter Niklaus.