17. Jahrgang | Nummer 25 | 8. Dezember 2014

Professor Kant und der Terror

von Heino Bosselmann

Mit Blick auf das große Ganze „der gesellschaftlich auf Erden vereinigten, in Völkerschaften verteilten Menschen (universorum)“ war Immanuel Kant (1724-1804) als Aufklärer Optimist.
Umso aufmerksamer wird man, wenn man in einem seiner späten Aufsätze sogar das Adjektiv „terroristisch“ findet, und zwar in der 1798 in Königsberg gedruckten Schrift „Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?“ Darin behandelt der Philosoph in einem Absatz die heiße Thematik „Von der terroristischen Vorstellungsart der Menschengeschichte“: „Der Verfall ins Ärgere kann im menschlichen Geschlechte nicht beständig fortwährend sein; denn bei einem gewissen Grade desselben würde er sich selbst aufreiben. Daher beim Anwachsen großer, wie Berge sich auftürmender Gräueltaten und ihnen angemessenen Übel gesagt wird: nun kann es nicht mehr ärger werden: der jüngste Tag ist vor der Tür, und der fromme Schwärmer träumt nun schon von der Wiederbringung aller Dinge, und einer erneuerten Welt, nachdem diese im Feuer untergegangen ist.“
Trotz möglicher Rückschläge und bei aller Sisyphos-Stagnation in der Welt erkennt Kant dennoch eine generelle Tendenz zum Guten, zum Moralischen und zum Recht, und zwar am Beispiel der französischen Revolution. Er begrüßt durchaus radikalaufklärerisch die Republik des „geistreichen Volkes“. Aller Enthusiasmus, so der Königsberger, gehe immer „aufs Idealische und zwar rein Moralische, dergleichen der Rechtsbegriff ist, und nicht auf Eigennutz gepfropft werden kann. Durch Geldbelohnungen konnten die Gegner der Revolutionierenden zu dem Eifer und der Seelengröße nicht gespannt werden, den der bloße Rechtsbegriff in ihnen hervorbrachte, und selbst der Ehrbegriff des alten kriegerischen Adels verschwand vor den Waffen derer, welche das Recht des Volks, wozu sie gehörten, ins Auge gefasst hatte.“
Zwar nicht eine Revolution, wohl aber eine Evolution führe die Menschen zu einer „naturrechtlichen Verfassung“, vorzugsweise einer republikanischen. Ist es erst so weit, vergesse sich der Vorzug nicht mehr, weil er „eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat“ und zudem beweist, „dass das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei, und so fernerhin fortgehen werde“.
Republikanische Verhältnisse und eine diese sichernde Verfassung erwartete Kant allerdings eher „von oben herab“, aus der Übersicht des aufgeklärten Staates, denn „von unter herauf“. Größtes Hindernis bei der Durchsetzung von Moral und Vernunft sei allerdings der Krieg, von dem Kant jedoch zuversichtlich meint, er würde nach und nach aus dem Politischen verbannt werden. Dabei zitiert er seinen Vordenker und philosophischen Gewährsmann Hume: „Wenn ich jetzt die Nationen im Kriege gegen einander begriffen sehe, so ist es, als ob ich zwei besoffene Kerle sähe, die sich in einem Porzellanladen mit Prügeln herumschlagen. Denn nicht genug, dass sie an den Beulen, die sie sich wechselseitig geben, lange zu heilen haben, so müssen sie hinterher noch allen den Schaden bezahlen, den sie anrichteten.“
Was für eine liebenswerte Vorstellung vom Menschen und seiner Zukunft, nicht wahr? – Ob man dafür im stillen Königsberg leben musste? Ich hege – auch in Bezug auf Kants deontologische Ethik – doch stets den Verdacht, der Philosoph ging vor allem von sich selbst und seiner Redlichkeit aus. Dergleichen ist selten, leider, jedenfalls wohl nicht von universeller Geltung.
Wichtiger aber: Kant konnte sich offenbar nicht vorstellen, dass es Religion sein könnte, die „Enthusiasmus“ auslöst. Und ebenso wenig, dass republikanische Vernunft, die – etwa in Gestalt des Interventionismus der stärksten Republik der Welt – keine Regularien findet, Moral und Recht (zum Beispiel im Irak oder in Afghanistan) zu stärken. Was nur hätte Kant zum ISIS-Terror im Mittleren Osten, was hätte er zu „Boko Haram“ gesagt? Welche Entwicklung hätte er mit Blick auf diese pervertierte Grausamkeit des Glaubens prognostiziert? Sein Gottesbeweis war ja weder philosophisch-logischer noch gar theologischer, sondern ethischer Art: Gott als moralisch notwendige Annahme! „Die Wirklichkeit eines höchsten moralisch-gesetzgebenden Urhebers ist also bloß für den praktischen Gebrauch unserer Vernunft hinreichend dargetan, ohne in Ansehung des Daseins desselben etwas theoretisch zu bestimmen.“ Man vergleiche das mit dem Geltungsanspruch der gegenwärtigen religiösen Totalitarismen.
Selbst für Kants Zeitgenossenschaft lagen die furchtbaren Religionskriege in Europa schon lange zurück, und er lebte in Preußen, einem für damalige Verhältnisse beinahe laizistischen Staat. Der steht heute in verschiedenen Weltregionen mehr denn je in Frage steht, stellt aber wohl umso mehr die einzige Rettung gegenüber monotheistischem Fanatismus und dessen widerlicher Apartheit dar.
Lessings „Nathan der Weise“ formuliert eine schöne Illusion in schönen Blankversen. Kant meinte den „Ewigen Frieden“ herleiten zu können, Hegel setzte diese Zuversicht geschichtsphilosophisch fort. Wir sehen das als unser gedankliches Erbe an. Abendländisches Denken. Aber wie ist es um dessen Chancen in der heutigen Welt, die man sich zunehmend scheut, noch modern zu nennen, bestellt?