von Axel Fair-Schulz, Potsdam, N.Y.
Mike Browns Mörder muss sich, wie leider nicht anders zu erwarten, vor keinem Gericht für sein Verbrechen verantworten. Das juristische System der USA hat eine lange und blutige Tradition, rassistisch motivierten Polizei-Terror zu verharmlosen oder in zahllosen Fällen sogar vollständig zu leugnen. Daran hat auch die Administration von Barack Obama nichts geändert, sondern im Gegenteil durch ihre den rechtslastigen Republikanern immer mehr entgegenkommende unsoziale Innen- und Außenpolitik die bereits abgrundtiefen Widersprüche, Konflikte, und Brennpunkte der amerikanischen Gesellschaft noch weiter verschärft.
Um wirklich zu verstehen, warum der 28-jährige weiße Polizist Darren Wilson in Ferguson/Missouri am 9. August 2014 einen unbewaffneten afro-amerikanischen Jugendlichen auf offener Straße mit zwölf Revolverschüssen, von denen mindestens sieben trafen, zerlöcherte, muss man die über diesen speziellen Tatbestand hinausreichenden gesellschaftlichen Kräfte untersuchen. Mit anderen Worten: Der Zusammenhang von Rassen- und Klassendiskriminierung in den USA ist hier mindestens ebenso wichtig wie die intellektuellen und charakterlichen Grenzen des uniformierten Totschlägers.
Der Hauptgrund für die brutale und nur allzu oft tödliche Polizeigewalt gegen Afroamerikaner besteht weniger in individuell rassistischen Polizisten, an denen es bedauerlicherweise nicht mangelt, sondern ist in den rassistischen und sozialen Strukturen der amerikanischen Gesellschaft im Allgemeinen und auf polizeilicher und juristischer Ebene im Besonderen zu suchen.
Die USA haben sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr zu einem nur noch formell demokratisch legitimierten Überwachungs- und Polizeistaat entwickelt, der in erster Linie den Interessen einer superreichen kapitalistischen Elite dient. Die wichtigsten diesbezüglichen Statistiken sind schnell aufgezählt.
Emanuel Saez und Gabriel Zucman, beide Professoren an der pro-kapitalistischen London School of Economics, zeigten in ihrer Studie vom November 2014 auf, dass das soziale Gefälle in den USA noch schlimmer ist, als von Thomas Picketty in seiner bekannten Untersuchung diagnostiziert.
Saez und Zucman empfehlen, dass wir uns nicht nur auf die berüchtigten 1 Prozent der Superreichen konzentrieren, sondern zugleich die 0,1 Prozent der herrschenden Schicht untersuchen. Diese nämlich kontrolliert 22 Prozent des amerikanischen Volksvermögens. Und auch diese Elite der Elite ist sozial stratifiziert. 0,01 Prozent der US-Bevölkerung kontrolliert 11,2 Prozent des amerikanischen Gesamtvermögens. 90 Prozent der amerikanischen Gesamtbevölkerung hingegen nennt nur 22 Prozent – genausviel wie die reichsten 0,1 Prozent – des US-Gesamtvermögens ihr Eigentum. Der Soziologe William Domhoff von der University of California at Santa Cruz bezifferte bereits 2010 den Reichtum der Top-1-Prozent der Bevölkerung als 35,4 Prozent des US-Volksvermögens. Die folgenden 19 Prozent der besserverdienenden Amerikaner kontrollierten sage und schreibe 53,5 Prozent des US-Wohlstandes, während die „unteren“ 80 Prozent der US-Einwohner ganze 11,1 Prozent des US-Volksvermögens ihr Eigentum nennen. Afro-Amerikaner sind die mit Abstand ärmste Bevölkerungsgruppe in den USA. Das amerikanische Bundesamt für Statistik quantifizierte die Zahl der von extremer Armut betroffenen Afro-Amerikaner mit 28,4 Prozent. Im Vergleich dazu liegt der Prozentsatz bei weißen Amerikanern knapp unter 10 Prozent.
Afro-Amerikaner sind seit Gründung der USA Opfer von grausamer Unterdrückung und schamloser Ausbeutung seitens einer weißen Oberschicht. Dieses hat sich auch nach der formalen Aufhebung der Sklaverei im Rahmen des amerikanischen Bürgerkrieges nicht grundlegend geändert. Im Gegenteil, das sich unter dem Begriff Jim Crow entwickelte System der systematischen juristischen, sozial-ökonomischen und kulturellen Diskriminierung von Afro-Amerikanern setzte das alte System unter neuen Vorzeichen fort. Die afro-amerikanische Bürgerrechtsbewegung erkämpfte unter großen Opfern einige wichtige Verbesserungen seit den 1950er Jahren. Doch die mit dem Niedergang des sozialstaatlichen keynesianischen Kapitalismus in den späten 1970er Jahren verbundene konservativen Gegenrevolution und der darauf folgenden neoliberalen turbokapitalistischen Wende verschlechtert sich die Lage der Afro-Amerikaner wieder deutlich. So sind diese unverhältnismäßig hoch Opfer von Polizeigewalt und Rechtswillkür.
Einige durchaus erschreckende Statistiken verdeutlichen dies. So werden im Gegensatz zu allerhand populistischen Gerüchten und Vermutungen nur 13 Prozent aller Drogendelikte von Afro-Amerikanern begangen. Allerdings sind 46 Prozent aller wegen Drogendelikten verurteilten Amerikaner Afro-Amerikaner. Afro-Amerikaner werden in der Regel bei gleichen Vergehen beträchtlich härter bestraft als weiße Amerikaner.
Zwei weitere Statistiken erhellen das schlimme Ausmaß der Polizeigewalt gegen Afro-Amerikaner heute. So wurden zwischen 1917 und 1922, während der grausamsten Epoche der Lynchjustiz, in den Südstaaten 284 Afro-Amerikaner von weißen Rassisten gehängt. Diese Zahl schlug wie eine Bombe ein in der amerikanischen Gesellschaft und erzeugte das notwendige Momentum, um die Anti-Lynch-Gesetze zu etablieren. Kürzlich berichtete das FBI, dass zwischen 2007 und 2012 über 500 Afro-Amerikaner durch Polizeigewalt starben. Die heutige Zahl der afro-amerikanischen Opfer von Polizeigewalt ist daher grösser als die Opfer der Lynchjustiz zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Michelle Alexander, Jura-Professorin an der Ohio State University, legte 2010 ihr Buch „The New Jim Crow: Mass Incarceration in the Age of Colorblindness“ vor. In dieser exzellenten Studie untersucht Alexander das unmenschliche und immer ausgeweiterte amerikanische Gefängnissystem. Die Fakten sind alarmierend. Obgleich die US-amerikanische Bevölkerung nur 5 Prozent der Welt-Bevölkerung ausmacht, sind 25 Prozent aller Gefängnisinsassen weltweit in den USA eingesperrt.
Kein Land der Erde sperrt einen größeren Teil seiner eigenen Bevölkerung ein als die USA, wo 2013 730 Bürger pro 100.000 Einwohnern inhaftiert sind. Im Vergleich dazu sind 598 Menschen pro 100.000 Einwohner in Russland und 170 pro 100.000 Menschen in China eingesperrt. Ein Großteil der amerikanischen Gefängnisinsassen sitzt wegen gewaltloser Delikte und kommt disproportional aus den afro- und lateinamerikanischen Bevölkerungsgruppen. Menschen, die einmal in die Mühlen des amerikanischen Gefängnissystems geraten sind, haben kaum noch Chancen, nach ihrer Entlassung vernünftige Arbeit oder auch nur Wohnraum zu finden. Selbst die Eröffnung eines Bankkontos ist nur noch unter größten Schwierigkeiten möglich. In zahlreichen US-Bundesstaaten verlieren selbst wegen Bagatelldelikten vorbestrafte Menschen ihr Wahlrecht, manchmal sogar auf Lebenszeit.
Seit der neoliberalen Wende im US-Kapitalismus werden mehr und mehr Polizeieinsätze in afro-amerikanischen Wohnvierteln durchgeführt, obgleich andere Bevölkerungsgruppen einen höheren Prozentsatz an Straftätern zu verzeichnen haben. Verbunden mit disproportional drakonischen Strafen auch wegen kleinerer Vergehen sind die Konsequenzen zerstörerisch für Afro-Amerikaner. Der von Nancy Reagan in den 1980er Jahren erklärte sogenannte Krieg gegen die Drogen entpuppt sich immer deutlicher als ein Krieg gegen die afro-amerikanische „Unterschicht.“ Wer diesen skandalösen Zustand abhelfen möchte, muss nicht nur auf ein Abbauen des zunehmend militarisierten Polizei-Terrors drängen, sondern zugleich eine grundlegende Reform des rassistischen amerikanischen Justizsystems initiieren. Die an der Princeton University lehrende Wissenschaftlerin Keeanga-Yamahtta Taylor argumentiert in der Dezember-Ausgabe der Monatszeitung Socialist Worker dass die weitverbreitete Polizei-Praxis des Racial Profiling endlich verboten werden muss. Im Rahmen dieser perfiden und zutiefst rassistischen Methode werden Afro-Amerikaner in erster Linie wegen ihrer Hautfarbe und Kleidung von der Polizei fokussiert und diskriminiert. Was wäre Amerika und der Welt nicht alles erspart geblieben, wenn die Polizei einen auch nur annähernd ähnlichen Eifer an den Tag gelegt hätte bei der Untersuchung von Verbrechen der Wall-Street-Banker, unter denen nach wie vor hunderte Millionen leiden. Taylor fordert daher zu Recht, dass die bis an die Zähne bewaffnete amerikanische Polizeipräsenz in afro-amerikanischen Wohngegenden drastisch zurückgezogen werden muss. Zugleich muss der ursächliche Zusammenhang zwischen Polizeigewalt auf der einen Seite und dem seit Anbeginn der neoliberalen Transformation des amerikanischen Kapitalismus forcierten sozial-ökonomischen Plattwalzen afro-amerikanischer Wohngegenden sichtbar gemacht werden. Seit Jahrzehnten werden gerade dort öffentliche Schulen, Krankenhäuser, Kliniken und kulturelle Einrichtungen zu Tode gespart und Wohnblöcke mit bezahlbaren Mieten von Immobilienhaien entsorgt. Arbeits- und Perspektivlosigkeit breiten sich unter solchen Umständen immer weiter aus. Mike Brown wurde von Darren Wilson erschossen. Doch dieser war nicht sein einziger Mörder.
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Schlagwörter: Afro-Amerikaner, Armut, Axel Fair-Schulz, Ferguson/Missouri, Polizeigewalt, Rassismus, USA