17. Jahrgang | Sonderausgabe | 15. Dezember 2014

Kein Wiedersehen

von Horst Möller

Mit 75 Jahren blickte der Hirnforscher Davide Schiffer auf Stationen seines Lebens zurück. Aus dem Sohn des aus Ungarn stammenden Arbeiters einer Papierfabrik im norditalienischen Cuneo war der Direktor der Neurologischen Klinik der Universität in Turin, ebenda Direktor für postgraduale Studien in der gleichen Fachdisziplin, Mitglied neuropathologischer Gesellschaften in Italien, Frankreich, Deutschland, USA geworden. Die Liste seiner Veröffentlichungen ist beeindruckend, allerdings verfügt die Deutsche Nationalbibliothek lediglich über zwei seiner fünf Buchpublikationen über Hirntumore: „Brain Tumors. Biology, Pathology and Clinical References“ und „La percezione visiva e il mondo microscopico“. Von den drei Teilen seiner Lebenserinnerungen ist bisher nur der erste ins Deutsche übersetzt, er umfasst die Jugendzeit bis zum 27. Lebensjahr.
Bevor der eben erst an der Uni Turin mit summa cum laude zum Dr. med. promovierte Davide Schiffer, gerade mal vierundzwanzig Jahre alt, sich auf Empfehlung seines Doktorvaters entschloss, nach Neustadt im Schwarzwald zu gehen, um dort am Institut für Hirnforschung seine Facharztausbildung weiterzuführen, hatte er zunächst eine tief im Herzen sitzende Befangenheit zu überwinden. Zum einen: Würde er, noch ziemlich grün hinter den Ohren, vor dem dort thronenden Institutsgründer und der strengen französischen Frau Professor an dessen Seite bestehen können? In Oskar Vogt, dem als Sozialist 1937 abgelösten Direktor des „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung“ Berlin-Buch, sollte er einem Gelehrten gegenüber treten, dem es vorbehalten gewesen war, das Gehirn Lenins zu sezieren, bei diesem eine außergewöhnliche Häufung von Pyramidenzellen in der dritten Hirnrindenschicht festzustellen und daraus die Fähigkeit eines „Assoziationsathleten“ zu schlussfolgern.
Zum anderen: Wie würde sieben Jahre nach Kriegsende die fremde Umgebung auf ihn reagieren, da er doch als sechzehnjähriger Partisan gemeinsam mit seinem zwei Jahre älteren Bruder sein Fell in den heimatlichen Bergen des Piemont verteidigt hatte? Des weiteren sowie vor allem: Er, dessen Vater den Unrechtsgesetzen der damaligen Rassenpolitik zufolge 1944 nach Auschwitz deportiert worden war und mit dem es danach kein Wiedersehen gab – auf welche Ressentiments hatte er sich gefasst zu machen? Und schließlich: Wie würde er, vorläufig noch ohne Deutschkenntnisse, sprachlich zurechtkommen? Doch bange machen galt nicht, frühzeitig genug hatte er erfahren müssen, dass Leben in Not schneller reifen ließ und mit einem „jetzt erst recht“ sogar Ausweglosigkeit überwindbar machte. Es spricht für die rasch gewonnene Souveränität des aufstrebenden Forschers, auch Laien verstehbar machen zu können, womit er inmitten der Kuckucksuhridylle befasst war.
Eine seiner Untersuchungen galt einem Gehirn, das die Besonderheit aufwies, dass der linke Stirnlappen, Sitz des Gedächtnisses, doppelt so groß wie normal war. Der Träger war mit der außergewöhnlichen Fähigkeit begabt gewesen, 60 verschiedene Sprachen und Dialekte zu beherrschen, hatte aber ansonsten eine nur mäßige Intelligenz aufzuweisen. Was bedeutete: „Bei Sprachen ist es ähnlich wie bei der Mathematik oder bei der Musik: die anatomischen Voraussetzungen müssen stimmen; sie durch Lernen ersetzen zu wollen ist so gut wie aussichtslos.“ Und es entspricht Schifferschem Ethos, von einem solchen Befund ausgehend sich zu umfassenderem Hier und heute in Beziehung zu setzen: „Hatte ich denn nicht versucht, gerade mit logischen Schlussfolgerungen die Haltung der Deutschen gegenüber der Shoah einzuschätzen? […] Dieser Massenmord war nicht nur das Produkt von kranken und verbrecherischen Gehirnen, wie das behauptet wurde, um das deutsche Volk in seiner Gesamtheit moralisch freizusprechen. Nein, der Massenmord war auch Ergebnis einer weit ausgreifenden, komplexen und perfekt funktionierenden Organisation… Der Protest, der ausblieb, und der fehlende Widerstand in der großen Masse der Bevölkerung hatten die Verbrechen erst ermöglicht und damit das Handeln der Täter autorisiert.“
Um die Bitternis ermessen zu können, die dieser Einsicht innewohnt, sind Briefe wiedergegeben, die Vater Schiffer zwischen Februar und Juni 1944 aus Sammellagern vor seinem Abtransport an seine Frau, die beiden Söhne und das Töchterchen geschrieben hat. Dass mutlose Traurigkeit sich nach der Verhaftung des Vaters ausgebreitet habe, sagt Davide Schiffer über das Unglück, das über die Familie hereingebrochen war, sowie dass man stumm und unfähig war, nach irgendeinem Ausweg zu suchen. Nicht den Versuch gewagt zu haben, die Verhaftung zu verhindern, wurde ihm zur Selbstanklage – dauerhaft, sein Leben lang. Um lebensgefährlichen Übergriffen zu entrinnen und der drohenden eignen Verhaftung vorzubeugen, waren damals dann zunächst die beiden Brüder, danach auch Mutter und Tochter in die Berge geflüchtet.
Sich heute dem berlusconibesoffenen Italien gegenüber dazu zu bekennen und – höchst dramatisch – davon zu berichten, ja, wir haben auf der anderen Seite gestanden, gehörten einer „Bande“ an (so die als ehrenvoll empfundene, nun selber verwendete Feindbezeichnung) und sind mit allen Wassern des Partisanenkampfes gewaschen, ist alles andere als nostalgisch. Ganz gewiss dürfte sich aus der Enttäuschung darüber, dass jene Ideale nicht verwirklicht worden sind, für die man so lange gekämpft und das Leben aufs Spiel gesetzt hatte, das Außergewöhnliche dieser Biografie mit gespeist haben. Dieses Buch, dessen deutsche Version acht Jahre nach der Erstfassung herauskam, ist ein Zeitdokument von Bestand.

Davide Schiffer: Kein Wiedersehen. Shoah – Resistenza – Nachkriegsjahre, Wallstein Verlag, Göttingen 2011, 367 Seiten, 24,90 Euro.