17. Jahrgang | Nummer 25 | 8. Dezember 2014

Es ist stillgeworden …

von Stephan Wohanka

Das Geheimnis ist eine
der größten Errungenschaften der Menschheit.
Georg Simmel

Ohne Geheimnisse gibt es kein Ich.
Juli Zeh

… um den NSA-Skandal, zu still! Wenn da nicht Pressemeldungen wären, dass die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen zum „angeblich abgehörten Mobiltelefon“ der Kanzlerin einstellen werde oder der frühere US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden für seine Enthüllungen maßloser weltweiter Ausspähaktivitäten mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wurde, gäbe es in der causa nicht mehr viel zu hören …
Snowden also – für die einen ein Held, für die anderen ein Verräter vom „Geheimnissen“. „Das Geheimnis”, so schreibt Georg Simmel in seiner Soziologie von 1906, „[…] das durch negative oder positive Mittel getragene Verbergen von Wirklichkeiten, ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit; gegenüber dem kindischen Zustand, in dem jede Vorstellung sofort ausgesprochen wird, jedes Unternehmen allen Blicken zugänglich ist, wird durch das Geheimnis eine ungeheure Erweiterung des Lebens erreicht, weil vielerlei Inhalte desselben bei völliger Publizität überhaupt nicht auftauchen können. Das Geheimnis bietet sozusagen die Möglichkeit einer zweiten Welt neben der offenbaren, und diese wird von jener auf das stärkste beeinflußt […] Die geschichtliche Entwicklung der Gesellschaft ist in vielen Teilen dadurch bezeichnet, daß früher Offenbares in den Schutz des Geheimnisses tritt, und daß umgekehrt früher Geheimes dieses Schutzes entbehren kann und sich offenbart […] “.
Der erste Satz in Carl Schmitts Politischer Theologie von 1922 ist jedem politisch Interessierten geläufig: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Wenn das Geheimnis – nach Simmel – in höchstem Maße kulturbildend ist, ist die Versuchung groß, in Schmitts wuchtiger These den Begriff „Ausnahmezustand“ durch „Geheimnis“ zu ersetzen. Ich will dieser Versuchung widerstehen, weil der Ursprungssatz realgeschichtlich völlig anders konnotiert ist – mit der (Un)Rechtsauffassung des Dritten Reiches. Wenn jedoch der „Souverän“ als handelndes Subjekt und nicht als Rechtsfigur gesehen wird, meine ich durchaus sagen zu können: Ich bin souverän, solange ich über mein individuelles Geheimnis bestimme, und die Gesellschaft ist es, solange sie über das kollektive verfügt. Und souverän handelt auch der, der sein oder ein Geheimnis bewusst freigibt. Nimmt man sowohl dem Einzelnen als auch dem Kollektiv die Befugnis über das Geheimnis, nimmt man ihnen ihre Souveränität!
Und damit sind wir mittendrin, denn genau das geschieht – permanent: Nicht nur Google, Facebook & Co. bemächtigen sich des Geheimnisses, indem sie – die Daten ihrer Nutzer zur ökonomischen Verwertung stehlend – deren Privatsphäre unterhöhlen; sondern auch namentlich US-amerikanische und britische Geheim(!)-Dienste – eigentlich zum Schutze der Öffentlichkeit berufen – wildern weltweit und eignen sich illegal politische und wirtschaftliche Geheimnisse an. Nicht zuletzt massiv bei ihren ihnen über eine „Wertegemeinschaft“ verbundenen Partnern. Ein dicker Hund!
Die Reaktionen der deutschen Politik sind bekannt. Von Merkels „Das geht gar nicht.“ bis Schäubles „Jeder kann hören, was ich zu sagen habe.“ reichte das infantile Gestammel; gefährlich wurde es bei des damaligen Verfassungsministers Wort vom „Super-Grundrecht auf Sicherheit“. Dieses Wort, setzte es sich durch, würde Schleusen öffnen: Das Geheimnis wäre nicht länger kulturbildend, sondern lebensgefährlich! Eine staatliche Kontrolle aller Lebensbereiche wäre nicht nur gerechtfertigt, sondern unumgänglich; die Macht wäre gar nicht oder höchstens pseudodemokratisch legitimiert – basierend auf einem Elitenkonzept, gestützt durch ideologische Indoktrination auf Grundlage einer säkularisierten Ersatzreligion und nicht zuletzt gepaart mit einem ausgeklügelten Sanktionsapparat. Terror, Folter, Manipulation und Liquidierung Andersdenkender wären jederzeit möglich, wenn nicht an der Tagesordnung.
Und: Jeder Mensch hat eine jeder Transparenz abholde Intimzone, die ihn als Menschen erst ausmacht, ihm Identität und Würde gibt; erst die Fähigkeit zum Geheimnis macht den Menschen zum gesellschaftlichen Subjekt! „Wer nichts zu verbergen hat, der hat bereits alles verloren.“ (Juli Zeh). Mehr noch – menschliche Kommunikation beruht auf dem Geheimnis!
Nicht das „Super-Grundrecht Sicherheit“, nicht die Aufforderung, Google, Facebook & Co. zu meiden, bringen uns folglich weiter, sondern dass der Staat, dem wir Bürger unser Recht zur Selbstverteidigung aus gutem Grund anvertraut haben für das Versprechen, uns zu schützen, dies auch tut! Unsere Geheimnisse eingeschlossen.
Jedermann hat das Recht, sich im Internet frei zu bewegen; ja er kann gar nicht umhin, wenn man daran denkt, dass viele Dienstleistungen beinahe nur noch dort erreichbar sind! Und der Staat muss dafür sorgen, dass die Daten geschützt werden. Dass es nicht leicht ist, angesichts globalisierter Datenströme eine nationalstaatlich verfasste Ordnung durchzusetzen, ist klar; aber erst als herauskam, dass auch Merkels Handy – wie wir nun wissen – „angeblich“ abgehört wurde, gab es halbherzige Bemühungen, eine Strategie für eine internationale Cyber-Sicherheit zu entwickeln. Soweit die „individuelle“ Seite des Problems.
Auf der Seite der Exekutive sieht die Gleichung etwas anders aus: Wer dort das Geheimnis, das heißt, die Bereiche der Geheimhaltung, definiert, besitzt auch die Macht. Deshalb bedürfen wir als Gesellschaft insgesamt wiederrum einer gewissen Transparenz, die Strukturen durchsichtig macht; Strukturen, auf denen sowohl die politische und ökonomische Macht als auch die dazugehörige Kommunikation gründen. Transparenz, die Geheimhaltung und Macht in Schranken hält oder nötigenfalls abbaut, gehört folglich zur Demokratie, denn Demokratie beruht auf einem offenen, zumindest gesellschaftspolitisch und teilweise auch sicherheitspolitisch geheimnisfreien Dialog.
Notwendige Ergänzung hier: „Totale“ Transparenz macht die Welt nicht durchschaubar(er). Sie zerstört vielmehr die „zweite Welt“ Simmels. Für eine wahllose Veröffentlichung von Daten und Dokumenten à la Wikileaks gilt das Gleiche: Sie zerstört die (internationale) Politik. Wo diese allerdings völkerrechtswidrig betrieben wird und mit Verbrechen einhergeht, ist die Herstellung von Transparenz oft der einzige Weg, entsprechenden Entwicklungen Widerstand entgegenzusetzen. Hier schließt sich der Kreis zum „Geheimnisverrat“ des whistleblowers.
Folge man oben geäußerter These, dass der, der ein Geheimnis bewusst freigibt, souverän ist – dann trifft das auf den whistleblower zu! Als „souverän handelndes Subjekt“ missachtet er geltendes Recht, weil er meint, dass persönlicher Widerstand gefordert sei. Kommt es zu so einem Fall – mit einem (minderen) Rechtsbruch auf einen (gravierenden) Rechtsbruch zu reagieren –, hat das moralische Motiv, haben also Gewissensgründe, gesellschaftliche Grundwerte schützen zu wollen, Vorrang vor dem gesetzten Recht!
Edward Snowden hat den Alternativen Nobelpreis völlig zu Recht erhalten!