von Thomas Ruttig
Seine akute Wahlkrise hat Afghanistan erst einmal überwunden. Nach über dreimonatigem Auszählen und nochmaligem Überprüfen aller abgegebenen Stimmen wurde am 29. September der neue Präsident und Karzai-Nachfolger, der frühere Finanzminister und Weltbankmitarbeiter Aschraf Ghani vereidigt. Mit seinem Konkurrenten, Ex-Außenminister Abdullah Abdullah, hatte er sich zuvor auf die Bildung einer „Regierung der nationalen Einheit“ geeinigt. Abdullah wurde eine Art Ministerpräsident – offiziell Chief Executive Officer genannt, ein Begriff auf dem Businessbereich, denn einen separaten Regierungschef sieht die afghanische Verfassung bisher nicht vor. Zudem vereinbarten Ghani und Abdullah, die sich im Wahlkampf noch heftig bekämpft hatten, ebenfalls das Amt eines offiziellen Führers der Opposition einzuführen, dessen Besetzung in Abdullahs Hände gegeben wurde. Schließlich werden alle wichtigen Staatsämter sowie führende Positionen in den Sicherheitskräften paritätisch aufgeteilt.
Zum einen könnten diese Änderungen das bisher überzentralisierte, auf die Person Karzais zugeschnittene und weitgehend dysfunktionale politische System aufbrechen. Neuerungen sind dringend nötig, vor allem wenn sie zu einer effektiveren und vor allem gerechteren Regierungsführung in dem immer noch von verbreiteter Armut geprägten Land führen. Anderseits hatte Ghani im Wahlkampf immer wieder die Unantastbarkeit der Verfassung beschworen, stimmte nun aber diesen und anderen Änderungen zu, die erst im Nachhinein, binnen zweier Jahre durch eine Loya Jirga, abgesegnet oder wieder rückgängig gemacht werden sollen. Verfassungsrechtlich ist das heikel.
Auch Afghanistans Wahlkommission begab sich auf dem Weg zu einer Lösung, die man nur in Anführungszeichen setzen kann, weit auf Neuland: Sie gab ein Wahlergebnis ohne Zahlen bekannt. Denn Abdullah, der Ghani zunächst Wahlbetrug in „industriellem Maßstab“ vorgeworfen hatte und selbst mit einer UN-kontrollierten Überprüfung aller acht Millionen abgegebenen Stimmen nicht zufrieden war, die er selbst verlangt hatte, insistierte, nicht explizit als „Wahlverlierer“ bezeichnet zu werden – und Ghani folgerichtig nicht als „Wahlsieger“. Die Kommission gab nach und übergab ihre Zahlen nur beiden Kandidaten, nicht der Öffentlichkeit. Ghanis Wahlkampfteam, das sich mit 55,3 zu 44,7 Prozent vorn liegen sah, verteilte sie sofort an die Medien. Abdullah schäumte, ließ die Einheitsregierung aber nicht platzen.
Die erste Lehre daraus lautet: Die afghanische Regierung war schlicht nicht in der Lage, Wahlen zu organisieren, die auch mit einem legitimen und deshalb allseits akzeptierten Ergebnis endeten. Die Schwäche der Institutionen hat technische wie politische Gründe, und beide sind nicht voneinander zu trennen. Einerseits fehlte es nach wie vor an verlässlichen Bevölkerungszahlen und folgerichtig an einem verlässlichen, einheitlichen Wählerregister. Einen Zensus sahen schon die Vereinbarungen der Bonner Afghanistan-Konferenz 2001 vor. Aber die Karzai-Regierung sabotierte dies immer wieder. Vor der diesjährigen Wahl bestand sie darauf, allen Afghanen moderne elektronische Ausweise zu geben, obwohl klar war, dass dies zeitlich nicht zu schaffen war. Selbst das eigene Innenministerium sagte das voraus, blieb aber ungehört. Die westlichen Regierungen ließen aber Karzai gewähren. Das Interesse, den zu Ende des Jahres vorgesehenen Abzug der meisten Truppen ruhig über die Bühne zu bringen, ging vor.
Schließlich musste man erneut auf die bisherigen, einfach zu fälschenden Wählerausweise zurückgreifen. Davon schwirren über 21 Millionen im Land umher, bei einer offiziellen Zahl von maximal 13 Millionen Wählern. Wozu das gut war, zeigte die Fälschungswahl 2009, bei der über ein Viertel aller Stimmen wegen Manipulationen für ungültig erklärt werden mussten (die meisten für Karzai) und Karzai trotzdem gewann. Sein wichtigster Gegenkandidat damals: Abdullah Abdullah.
Das monatelange Tauziehen und die extra-institutionelle Einigung sprechen Bände über die Qualität der Institutionen, die die US-geführte Intervention gegen das Taleban-Regime 2001 schaffen sollte, über den Stand der afghanischen Demokratie, zu der sich das Land nach dem Sturz des Taleban-Regimes 2001 erklärte, und noch viel mehr über das Verständnis der afghanischen Machteliten von dieser Demokratie. Sie haben wieder einmal die Sicherung der eigenen Macht, wenn auch durch eine Machtteilung, über das Votum der Afghanen und demokratische Mechanismen gestellt. Und es führte aller Welt vor Augen, dass vor allem die politische Mission des internationalen Anti-Taleban-Einsatzes fehlgeschlagen oder zumindest weit vor dem nötigen Ende abgebrochen worden ist.
Der Kompromiss zwischen Ghani und Abdullah spielt am meisten den Eliten der Karzai-Ära – den Warlords, „technokratischen“ Heimkehrern aus der Diaspora und auch einigen jungen Aufsteigern – in die Hände. Sie hatten sich schon vor der Wahl strategisch auf die Lager der beiden Kandidaten aufgeteilt und hoffen nun auf Positionen in der neuen Einheitsregierung. Damit wäre die neue im Grunde wieder die alte Regierung. Das Resultat wäre Kontinuität in Stagnation anstatt ein neuer Ansatz der Regierungsführung hin, der sich wie von Ghani versprochen an den Kernproblemen der Bevölkerung wie Armut, Korruption, wirtschaftlichem Verfall und andauerndem Krieg orientieren würde.
Vor allem unter den jungen, gebildeten und internet-affinen jungen Afghanen, die vor allem im ersten Wahlgang am 5. April begeistert und mit Hoffnung auf neue Gesichter und Reformen an die Wahlurnen gegangen waren (60 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 20 Jahre), löst die Einheitsregierung deshalb wenig Begeisterung aus. Nach Bekanntgabe des Deals Ergebnisses tauchten in den sozialen Medien sofort erste Botschaften mit der Frage auf: „Wo ist meine Stimme?“
Immerhin hat Ghani in der ersten Woche seiner Amtszeit versucht, einige Zeichen zu setzen, dass er wirklich an Veränderungen arbeiten will. Vor allem hat er angeordnet, den bis heute ungeklärten Skandal um die Kabul Bank, die größte Privatbank des Landes, neu aufzurollen. 2010 waren dort fast eine Milliarde Dollar als vermisst gemeldet worden; die afghanische Wirtschaft hatte ihre eigene Finanzkrise und gelangte dicht an den Rand des Zusammenbruchs. Nur mit Mühe und Finanzspritzen aus dem Ausland, konnte der Fall aufgefangen werden. Die Karzai-Regierung wälzte die Schuld auf zwei Bankmanager ab und blockierte darüber hinaus eine weitere Aufklärung, denn unter den Aktionären der Bank, die sie zu einem Selbstbedienungsladen für faule Kredite gemacht hatten, waren hohe Politiker. Dazu gehörten ein Bruder Karzais sowie ein Bruder seines – inzwischen verstorbenen – Vizepräsidenten Qassim Fahim. Unter anderem war es gang und gäbe, sich mit von der Bank geliehenem Geld Anteile an der Bank zu kaufen sowie Immobilienspekulationen zu finanzieren. Auch der Wahlkampf 2009 wurde auf allen Seiten über die Bank finanziert; allerdings war auch das illegal.
Ghanis Schritt ist mutig, aber geht gleichzeitig nicht weit genug – zumindest bisher. Im Grunde verlangt er nichts weiter, als dass geltende Gesetze auch durchgesetzt werden. Aber genau das ist, was die afghanischen Eliten bisher vermieden und zu ihrer Bereicherung und Machtfestigung genutzt haben.
Junge afghanische Zivilgesellschaftsaktivisten haben jetzt eine Initiative gestartet, die „100 Tage“ heißt. Sie soll die neue Einheitsregierung in der Zeit ihrer Amts-Flitterwochen beobachten und feststellen, welche Wahlversprechen eingehalten werden. Wenn Ghani und Abdullah nach dieser Frist noch unter Dampf stehen, könnten die Afghanen an den Silberstreif am Horizont glauben, der ihnen versprochen wurde.
Aber ihre Initiative und der Unmut der sich um ihre Stimme betrogen Fühlenden könnten ungehört verhallen, weil es kaum organisierte Kräfte der Opposition gibt. Mit den Anhängern Abdullahs ist die bisherige bedeutendste Allianz der inneren Opposition offiziell in die Regierung eingetreten. Viele prodemokratische Parteien und Gruppen, die drei repressive Regimes (sowjetisch gestützte Linke, Mudschadehin und Taleban) nur mit Mühe überlebt hatten, wurden von den Regierungen der demokratischen Staaten vom Neubeginn in 2001 an ignoriert und damit marginalisiert. Viele von ihnen hatten jetzt auf Ghani gesetzt, fielen aber zunehmender Ernüchterung anheim, als in dessen Allianz immer mehr frühere Warlords auftauchten sowie Politiker der Karzai-Ära, die für ihre Korruption oder extreme ethno-politische Tendenzen bekannt sind. Bleiben jene, die bei der Regierungsumbildung auf zentraler und Provinzebene zu kurz kommen werden, und die Taleban als Sammelbecken für Unzufriedene – aber für die jungen Demokraten sind auch diese keine Alternative. Sie werden jede Unterstützung Gleichgesinnter aus der Region und dem westlichen Ausland benötigen, damit sie nicht vollständig unter die Räder kommen.
Der Autor ist Ko-Direktor der unabhängigen Think-tanks Afghanistan Analysts Network, Kabul/Berlin (https://www.afghanistan-analysts.org/) und hat seit 1983 insgesamt mehr als zehn Jahre in Afghanistan gelebt und gearbeitet, zunächst für die DDR-Botschaft, später für die UN, die EU und die bundesdeutsche Botschaft.
Schlagwörter: Abdullah Abdullah, Afghanistan, Aschraf Ghani, Präsidentschaftswahlen, Thomas Ruttig