17. Jahrgang | Nummer 22 | 27. Oktober 2014

Flandrische Kleinode. Brügge

von Alfons Markuske

„Nach Brügge?
Das ist doch ein Museum!“

Ein Antwerpener Gastwirt,
in einem Tonfall
zwischen Bedauern und Geringschätzung.

„Brügge sehen und sterben“ hieß vor einigen Jahren eine typisch britische, also ziemlich schräge und schwarzhumorige Tragikomödie aus dem Gangstermilieu, die auch jede Menge schöne Ansichten der mittelalterlich-malerischen Innenstadt von Brügge (Stadtrecht seit 1128) zu bieten hatte. Ganz so weit gehen muss man ja vielleicht nicht, obwohl das Original – zumal im Alt-Weibersommer – den im Winter spielenden Film locker und bei weitem übertrifft.
Cum grano salis: An Landungsplätzen unweit der Stadt können bis zu sechs Kreuzfahrtschiffe festmachen. Schon wenn nur eines davon mit seinen Gästen die Gässchen und Gassen von Brügge (knapp 120.000 Einwohner) flutet, wird’s merklich enger und lauter. 3,4 Millionen Besucher sind es jedes Jahr insgesamt. Gottseidank haben die Kreuzfahrer jedoch allesamt Vollpension gebucht, so dass sie zum Abendessen wieder an Bord sein müssen. Am späteren Nachmittag leert sich daher das Stadtbild meist schlagartig.

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Unser erster Gang führt uns von unserem romantischen kleinen, direkt an einer Gracht gelegenen Hotel (ein echter Geheimtipp: Côté Canal – Huyze Hertsberge) zur nur wenige Fußminuten entfernten gotischen Onze-Lieve-Vrouwekerk (Liebfrauenkirche), die schon von weitem unübersehbar ist – mit ihrem zweithöchsten Backsteinturm weltweit (122 Meter; nur der von Sankt Michael im bayerischen Lanshut ist noch um achteinhalb Meter höher).
Publikumsmagnet ist das Gotteshaus allerdings nicht in erster Linie wegen dieses Trumms, sondern wegen eines weit filigraneren Kunstwerkes: der in der Zeit von 1503 bis 1505 von Michelangelo geschaffenen marmornen Madonna mit Kind. Im Unterschied zu herkömmlichen aufgerichteten Marienfiguren mit dem Jesuskind auf dem Arm sieht sich der Betrachter hier einer sitzenden Gottesmutter gegenüber, zwischen deren Knien der dem Babyalter bereits entwachsene Knabe steht. Beide haben die Augen niedergeschlagen und wirken entrückt – eine Darstellungsweise, die Leonardo da Vinci für Marienbildnisse eingeführt hatte: Introvertiertheit als Ausdruck des Bewusstseins von künftigem schweren Leid. Der Begriff „madonnenhaft“ steht ja auch als Synonym für erhabene weibliche Schönheit; die Brügger Madonna ist eine perfekte Versinnbildlichung derselben. Auch Albrecht Dürer kann bei seinem Besuch in der Stadt im Jahre 1521 nicht anders als andächtig davorgestanden haben.
Ursprünglich soll die Madonna für den Dom zu Sienna gedacht gewesen sein und auf einen vertraglich fixierten Großauftrag von Francesco Todeschini Piccolomini, des späteren Papstes Pius III., an Michelangelo zurückgehen. Wie es den Brügger Kaufleuten Johann und Alexandre Mouscron gelang, das Stück zu erwerben, ist nicht ganz klar. Michelangelo galt jedoch als höchst geschäftstüchtig, wie allein seine Hinterlassenschaft von fast 10.000 Golddukaten in bar bezeugt. Der Preisvorteil beim Verkauf an die Flamen soll gegenüber dem ursprünglichen Auftrag bei dreiunddreißigeinhalb Dukaten gelegen haben. Immerhin. Die Madonna war übrigens die einzige Skulptur des Künstlers, die zu dessen Lebzeiten Italien verließ.
Der Teil der Onze-Lieve-Vrouwekerk, in dem sie heute zu bewundern ist, wurde zum Museum „umgewidmet“, aber der Eintritt fällt mit lediglich zwei Euro sehr moderat aus.

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Quert man nach dem Verlassen des Madonnen-Domizils die daran vorbei führende Straße, steht man bereits nach wenigen Metern vor einer weiteren Wallstatt mit einzigartigen Kunstwerken – in diesem Fall für Liebhaber der flämischen Primitiven, wie die altniederländischen Meister auch genannt werden, zu denen neben den Gebrüdern van Eyck, Hieronymus Bosch, Rogier van der Weyden und anderen Hans Memling (zwischen 1433 und 1440 – 1494) zählt. Der aus Seligenstadt Gebürtige war zwar Deutscher, wirkte aber spätestens seit seinem urkundlichen belegten Erwerb des Bürgerrechtes im Jahre 1465 bis zu seinem Tode in Brügge.
Das Gebäude vis-à-vis der Onze-Lieve-Vrouwekerk ist das frühere Sint-Jan-Hospitaal, jahrhundertelang die größte städtische Einrichtung für Kranken- und Armenpflege und noch bis 1978 als Krankenhaus genutzt. Die Entstehung des Hospitals reicht bis ins 12. Jahrhundert zurück, und bis heute liegen Brügge und das burgundische Beaunne im Clinch über die Frage, wem denn nun die Ehre gebührt, das erste öffentliche Krankenhaus der Neuzeit in Europa in seinen Mauern zu bergen.
Zu den ältesten noch erhaltenen Gebäudepartien gehört die zentrale Krankenabteilung aus dem 14. Jahrhundert. Später kamen eine Brauerei, ein Männerkloster und ein Frauenkonvent hinzu. Von der langjährigen Spitalgeschichte kündet die gut erhaltene historische Apotheke, die zu besichtigen man mit Erwerb einer Eintrittskarte für den Gesamtkomplex berechtigt ist. Viele Besucher finden den Weg dorthin allerdings nicht, weil man dafür das Hauptgebäude wieder verlassen und einen benachbarten Durchgang passieren muss, um in den Innenhof der Anlage zu gelangen.
Die Kapelle des Hauptgebäudes wiederum dient heute als Memling Museum, das einige der wichtigsten Werke des Künstlers und insgesamt die wohl umfangreichste Sammlung seiner Werke vereinigt, darunter den Reliquienschrein der Heiligen Ursula und die Triptycha von Johannes dem Täufer, Jan Flreins und Adriaan Reins.
Nach einem Rundgang kann man – nur wenige Fußminuten entfernt – das visuelle Zwiegespräch mit den flämischen Primitiven im Groeningemuseum fortsetzen. Zurzeit allerdings hält man dort nach Boschs Triptychon Das jüngste Gericht leider vergeblich Ausschau – in Vorbereitung der zum 500. Todestag des Künstlers für 2016 im niederländischen s’Hertogenbosch geplanten großen Ausstellung werden die Tafeln gerade einer restauratorischen Remedur unterzogen.
Im Groeningemuseum sind aber auch spätere Malereiepochen sehr repräsentativ vertreten. Eine Entdeckung für uns – Le Lever (Das Erwachen) des belgischen Surrealisten Paul Devaux (1897 – 1994).

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Von der Burg, die Balduin I. einst errichten ließ, steht nichts mehr, nur der Name des Platzes im Zentrum der Stadt – Burg – erinnert noch daran. Hier finden sich aber andere Stein gewordene Insignien der Macht aus früheren Zeiten in seltener Häufung.
Beherrscht wird die Silhouette der Burg vom gotische Stadhuis (Grundsteinlegung: 1376), dessen Ratssaal mit seinem Holzgewölbe aus dem Jahr 1402 samt einzigartigen Wand- und Deckenverzierungen den Besucher staunen lässt.
Links an das Stadthuis grenzt ein dreigiebliges Renaissancegebäude von 1537 – mit vergoldeten Fassadenverzierungen und einer ebensolchen Justitia auf der Giebelspitze. Dort tagte das Brügger Gericht bis zum Bau des sich im rechten Winkel anschließenden Alten Gerichtshofes (errichtet 1722 – 27, klassizistisch).
Rechterhand des Stadthuises die auf einer gut erhaltenen romanischen Unterkirche aus dem 12. Jahrhundert ruhende zweistöckige Basiliek van het Heilig Bloed (Heiligblutbasilika), erbaut im 15. Jahrhundert (Gotik), zerstört nach der Französischen Revolution und im 19. Jahrhundert wiedererrichtet. Ihren Namen trägt die Basilika als Aufbewahrungsort einer besonderen Reliquie: Es soll sich um einige Tropfen vom Blute Christi handeln, die der flandrische Graf Diederik van den Elzas im Jahr 1149 vom zweiten Kreuzzug mitbrachte und der Stadt schenkte. In jüngster Zeit stimmte die katholische Kirche einer wissenschaftlichen Untersuchung zu: Es handelt sich tatsächlich um menschliches Blut. Weiterführende genetische Tests wurden allerdings verweigert – die hätten klären können, ob es sich um männliches oder weibliches Blut handelt … Das ficht die in der Basilika täglich Schlange stehenden Gläubigen – man kann gegen einen Obolus in selbst zu bestimmender Höhe auf einer Art Empore einzeln bis direkt an das Reliquiar herantreten – im Übrigen aber ebenso wenig an, wie die von blasphemischen Spöttern geäußerte Vermutung: Nähme man alle Heiligblut-Reliquien der Welt zusammen, es reichte außer für den Heiland auch noch für mindestens die Hälfte seiner Jünger.
Schräg gegenüber des Stadthuises die Alte Propstei. 1666 in schönstem Barock fertiggestellt, beherbergte sie ursprünglich das Domkapitel der damals angrenzenden katholischen Sint-Donaaskathedraal. Die rissen die Brügger angesichts herannahender französischer Revolutionstruppen in vorauseilendem Gehorsam ab.

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Besonderen architektonischen Charme strahlt der historische Stadtkern von Brügge ob seiner imposanten Konzentration speziell gotischer Bausubstanz auch anderenorts aus – selbst dort, wo die Gebäude zwar authentisch wirken, tatsächlich aber, wie die Heiligblutbasilika, sehr viel jüngeren Ursprungs sind. Letzteres in Brügge noch weit häufiger denn in Antwerpen.
Das Beispiel dafür ist der nur wenige Schritte vom Burg-Platz entfernte, sehr viel größere Markt. Dort erhebt sich mit 83 Metern der Belfried der Stadt; sein 47 Bronzeglocken umfassendes Carillon ist in jedem Winkel stündlich und öfter unüberhörbar. Er ist „echt alt“ (13. Jahrhundert). Wie auch die Lakenhalle (ehemalige Tuchhallen), die er krönt und die Brügges einstigen Reichtum – die Stadt galt ausgangs des Mittelalters als wohlhabendste Nordeuropas – manifestiert. Im Übrigen aber ist der Markt umzingelt von „reiner“ Gotik – vom Ende des 19. Jahrhunderts.
Zu verdanken haben die Brügger dies Louis Joseph Jean Baptiste Delacenserie (oder: De la Censerie, 1838 – 1909), der als Stadtbaumeister eben nicht nur Gotik restaurierte, sondern auch gehäuft neu baute – mit zeitgenössischen Mitteln versteht sich, aber weitgehend stilecht. So kam Brügge am Markt nicht nur zu seiner „gotischen“ Post … Etwas moderner konnte Delacenserie im Übrigen durchaus auch. Die Eingangshalle des Antwerpener Bahnhofs, von dem im ersten Teil dieser Reiseminiaturen die Rede war, geht ebenfalls auf sein Konto – in einer Mischung von Neoklassizismus (Fassade und Kuppel) sowie Art déco (Interieur).

Schluss folgt.

Teil I (Antwerpen) und II (Gent) wurden in Ausgabe 20 und 21/2014 publiziert.