von Hubert Thielicke
Die Schotten haben gewählt. Anfangs in Umfragen noch ziemlich weit hinter den Befürwortern des Vereinigten Königreichs liegend, schien die buntscheckige Vereinigung der Unabhängigkeitsbefürworter aus Schottischer Nationalpartei (SNP), Schottischen Grünen, Schottischer Sozialistischer Partei und unabhängigen Gruppen das Blatt wenige Wochen vor der Abstimmung zu wenden. In einigen Umfragen war ihre Kampagne „Yes Scotland“ fast gleichauf mit der No-Kampagne „Better Together“ der Londoner Regierungsparteien – Konservative und Liberaldemokraten – sowie der Labour Party. Die Ernüchterung kam jedoch am Morgen des 19. September. Zwar hatten in Dundee, der Hochburg der Separatisten, 57 Prozent mit „Yes“ und in Glasgow, Schottlands größter Stadt, 53,5 Prozent für die Abspaltung gestimmt, in 28 der 32 Wahlkreise gewannen jedoch die Unionisten. Mit 67 Prozent führten sie auf den Orkney-Inseln, aber auch auf den Shetlands sowie in den Grenzregionen Dumfries Galloway und Scottish Borders kamen sie auf weit über sechzig Prozent.
Wo liegen die Ursachen des so nicht erwarteten klaren Sieges der Befürworter des Vereinigten Königreiches? Wie wird es nun in Schottland und in ganz Großbritannien weiter gehen? Ursachensuche ist immer ein weites Feld. Jedenfalls scheinen vor allem drei Argumentationslinien der Unionisten gewirkt zu haben:
– Wirtschaft und Finanzen: Ein unabhängiges Schottland würde zum Verlust des Pfundes als gemeinsamer Währung führen, Banken und Wirtschaftsunternehmen würden abwandern, Arbeitsplätze verloren gehen, die Renten seien nicht sicher etc.;
– die Schaffung eines neuen Staates mit Administration, Verteidigung u.a. wäre ein langwieriger und teurer Prozess;
– die Abspaltung würde zum automatischen Ausscheiden aus der EU führen, während der Neubeitritt lange dauern könnte und zudem überhaupt nicht sicher sei.
Die Furcht vor „Experimenten“ wurde auch von den großen britischen Medien geschürt, während vor allem unabhängige Online-Medien sowie lokale Blätter „Yes“ befürworteten.
Als sich in der Schlussphase die Auseinandersetzungen verschärften und der Ausgang auf Messers Schneide zu stehen schien, ging Westminster in die Offensive. Die Londoner Parteien traten in Gestalt von Premierminister David Cameron, Vizepremier Nick Clegg, Labour-Chef Ed Miliband und Expremier Gordon Brown massiv in Erscheinung und heizten die Angstkampagne an. Praktisch in letzter Minute versprachen sie Schottland neue Autonomierechte: Es solle mehr Steuereinnahmen behalten und verteilen können, sich künftig noch stärker selbst regieren. Diese „Last-minute-Kampagne“ verfehlte ihre Wirkung nicht.
Wie auch immer, der Geist ist aus der Flasche. Alex Salmond, SNP-Chef und Erster Minister der schottischen Autonomieregierung, und die Yes-Kampagne haben zwar das Referendum verloren, jedoch eine umfassende Diskussion über die Zukunft Schottlands angestoßen und damit fast die Hälfte der Bevölkerung erreicht. Trotz Niederlage im Referendum sind die „kollateralen“ Folgen nicht zu übersehen:
Erstens erhält Schottland nicht nur mehr Autonomie, die Unabhängigkeitsdebatte wird weitergehen. Wie Salmond in seiner ersten Stellungnahme nach dem Referendum erklärte, habe die Mehrheit in Schottland entschieden nicht „in diesem Stadium“ („at this stage“) ein unabhängiges Land zu werden. Bereits 2017 steht mit dem von David Cameron im Falle seiner Wiederwahl 2015 angekündigten EU-Referendum schon eine weitere Entscheidung an. Ein britisches Mehrheitsvotum für einen EU-Austritt, was angesichts der Stimmungslage in England nicht auszuschließen ist, würde die europafreundlichen Schotten herausfordern.
Zweitens ist eine Umgestaltung des gesamten Vereinigten Königreiches im Sinne einer stärkeren Föderalisierung zu erwarten. Neben neuen Rechten für Schottland, Wales und Nordirland könnte jetzt auch England ein Regionalparlament erhalten.
Drittens wird der Vormarsch des Separatismus in anderen europäischen Ländern anhalten. Bereits am Tage nach dem schottischen Referendum nahm das katalanische Parlament mit großer Mehrheit ein Gesetz über ein Unabhängigkeitsreferendum am 9. November an. Während die Madrider Regierung das nach wie vor strikt ablehnt, hatten am 11. September in Barcelona weit über eine Million Menschen für einen souveränen Staat Katalonien demonstriert.
Insbesondere zwei wichtige Ziele der schottischen Nationalisten bleiben derzeit nicht erreichbar: Selbstbestimmung in den internationalen Angelegenheiten und Abzug der in Faslane bei Glasgow stationierten britischen Atom-U-Boote. Den Brüsseler Chefs von EU und NATO fielen nach dem Referendum spürbar die Steine vom Herzen. José Manuel Barroso hatte die Schotten massiv vor dem Verlust der EU-Mitgliedschaft gewarnt, die „Kettenreaktion“ eines unabhängigen Schottlands in anderen EU-Mitgliedern fürchtend. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen betonte erfreut die Rolle Großbritanniens als einem „führenden NATO-Land“.
Seine Yes-Kampagne habe zwar das Referendum verloren, aber Nationalisten-Chef Alex Salmond sei „der Sieger des Tages“, folgerte Spiegel Online. Er habe die britische Regierung dazu gebracht, weitere Kompetenzen nach Edinburgh abzugeben. Sein politisches Talent werde „zähneknirschend auch in London anerkannt“. Immerhin gilt er vielen politischen Beobachtern als derzeit fähigster Politiker in Großbritannien. Er hat die SNP zu einer starken Partei gemacht, so dass sie schließlich 2011 die absolute Mehrheit im schottischen Parlament gewinnen und das Referendum durchsetzen konnte. Mit seiner Regierung entwickelte er ein Konzept, das im Weißbuch „Scotland`s Future“ und einem Verfassungsentwurf Antworten auf die mit einer Unabhängigkeit zusammenhängenden Fragen gibt.
Deutlich wurde, dass es beim schottischen Unabhängigkeitsstreben nicht nur um nationale Emotionen und die Verfügung über die eigenen wirtschaftlichen Ressourcen geht, sondern dass auch soziale und politische Befindlichkeiten eine große Rolle spielen. Viele Schotten fühlen sich durch die von den Tories geführt Westminster-Regierung nicht richtig vertreten, kritisieren ihre neoliberale und euroskeptische Haltung. Sie bevorzugen eher einen Sozialdemokratismus skandinavischer Prägung, eine Linie, die wesentlich von der SNP vertreten wird. So sprach Salmond von der „Vision einer prosperierenden und mitfühlenden Gesellschaft“.
In kluger Voraussicht des Interesses großer Bevölkerungsteile an maximaler Autonomie hatte der SNP-Chef bereits 2012 in den Verhandlungen über das Referendum neben der Frage, ob Schottland ein unabhängiges Land werden solle, eine zweite vorgeschlagen: ob Schottland mehr Autonomie erhalten solle. Diese zweite Fragestellung hatte damals die britische Regierung abgelehnt. Nun muss sie im Grunde auf Salmonds zweite Option eingehen. In seinen Stellungnahmen nach dem Referendum plädierte er für Versöhnung und stellte den Sieg der Demokratie heraus, immerhin sei die Wahlbeteiligung weltweit eine der höchsten bei einer Wahl überhaupt gewesen. Er zeigte sich dabei erneut als starker Politiker und Volkstribun. Im Unterschied zu den aus der römischen Geschichte bekannten Volkstribunen Gaius und Tiberius Gracchus, die mit ihren Vorhaben scheiterten, wird sein Projekt jedoch weiter geführt. Am 19. September erklärte er, dass er auf der SNP-Jahreskonferenz im November nicht mehr für den Parteivorsitz kandidieren und auch den Posten als Erster Minister niederlegen werde. Eine neue Leitung solle den Prozess weiterführen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass ihm in beiden Positionen seine bisherige Stellvertreterin in Partei und Regierung, Nicola Sturgeon, folgen wird. Sie führte geschickt die Verhandlungen mit der Londoner Regierung über das Referendum und leitete dann die SNP-Kampagne.
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