17. Jahrgang | Nummer 20 | 29. September 2014

Querbeet (XLIII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal zwei Spitzenreiter, zwei Bühnen-Frischlinge, nacktes Fleisch und digitales Störfeuer…

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Die Zählliste des Deutschen Bühnenvereins annonciert: „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf ist spartenübergreifend und mit großem Abstand das am meisten produzierte und gespielte Stück der vergangenen Saison auf deutschsprachigen Bühnen, schlägt also locker Shakespeare und Mozart. Robert Koall, Chefdramaturg am Dresdner Staatsschauspiel, hat den Herrndorf-Roman trefflichst dramatisiert. Uraufführung war auch dort, zeitgleich mit dem Deutschen Theater Berlin. Hier hat Alexander Riemenschneider mit wunderbar fantasievoller Leichtigkeit inszeniert. Alles war gut und schön, verrückt und klar, lachhaft und traurig und im Kleinen sehr groß.
Da klauen zwei Achtklässler ein Auto und rasen los nach Irgendwo ins Abenteuer. Nach ein paar Tagen schon der große Knall, Unfall, Ende, aus. Doch in der kurzen Zeit haben die Jungs schon beinah alles erlebt, erfühlt und begriffen, was man im Leben begreifen und erfühlen kann. Ein fantastischer Schnelldurchlauf. Zum Heulen komisch, aber total ernst und voll cool ‑ wie die beiden Schauspieler Sven Fricke und Thorsten Hierse.

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Das berühmte Ranking des Best-Of im deutschsprachigen Schauspiel, alljährlich veranstaltet vom Fachmagazin Theater heute, forderte 44 Kritiker auf, ihre Favoriten auszurufen. Mit überwältigender Zustimmung (einschließlich meiner) wurde das Berliner „Gorki“ das „Theater des Jahres 2014“. ‑ Und wahrlich: Es steht glänzend da, ist gut verankert in der Mitte der Stadt, fast immer volles Haus, viele junge neugierige Leute, also deutlich neues Publikum, aber auch das ältere angestammte kommt gern; seltener Glücksfall. Die Auslastungsquote steht auf Anhieb bei sagenhaften 95 Prozent. Die meisten Produktionen sind echt sehenswert; auch wegen des völlig neu formierten, sensationell starken Ensembles. Der Mix der Formen und Themen ist optimal (kein Radikalinski-Neustart). Besonders großes Bravo für die Gesamt-Dramaturgie von Jens Hillje; er ist der schlaue Kopf des ganzen Apparats mit Intendantin Shermin Langhoff an der Spitze. Und: „Das „Gorki“ ist eben, um Missverständnisse auszuschalten, kein Migrantenstadel-Theater und auch kein poppig aufgemotzter Alternativ-Schuppen. Dabei geht es schick zu im Haus, klasse Gastronomie, feiner Service. Und immer ist die Stimmung des bemerkenswert konzentrierten Publikums wunderbar.

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Jetzt ein kleines, frech in die Kamera gedonnertes Filmchen für Leute mit zumindest leicht abgefahrenem Humor. Schon der auf den ersten Blick kesse, auf den zweiten ziemlich treffliche Titel sagt fast alles über Inhalt und Machart dieses Streifens von Isabell Suba: „Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste“. – Ich habe oft gelacht und noch öfter die Stirn gerunzelt bei diesem bissigen Blick hinter die Kulissen des welttollsten Filmfestivals in Cannes.
Da rast eine Jungregisseurin Isabell, gespielt von Anne Haug, gemeinsam mit ihrem Produzenten, gespielt von Matthias Weidenhöfer, durch die Büros einschlägiger Förderungsgremien und Vertriebsagenturen, eilt von Pressetermin zu Pressetermin, schluckt sich durch die fetzigen Premierenparties, um ihr neues Projekt zu „pitchen“. Dabei geht es drunter und drüber (organisatorisch, geistig, sexuell). Fast alles geht schief: kleine Euphorien, größere Depressionen. Dazu Kräche ohne Ende zwischen der lesbischen Regisseurin und ihrem beruflichen Partner, einem süßen Chaoten mit feinen Tattoos und „beständig wedelndem Penis“.
Aber Achtung! Der 77-Minuten-Film ist kein Porno, sondern eine Quasi-Doku. Die echte Regisseurin Suba nutzte ein Cannes-Ticket, um mit ihrer halbfiktiven Filmfigur, eben der Jungregisseurin Isabell-Anne Hugh, durch die Festivalitis zu streunen. Das brachte sarkastische Bilder in echt über diesen Riesenzirkus an der Cote Azur von oben (Glamour) und von unten (Geschäft, Enttäuschung, Erniedrigung, Katerstimmung). Man sieht, was offenbar Sache ist: Männer zeigen das, Frauen jenes. Machobetrieb! Außerdem kommt über äußerst witzig pointierte Dialoge allerhand rüber von dem, was da – intellektuell ‑ abgeht zwischen jungen, aufstrebenden Leuten, die Filmkunst machen wollen, aber noch nicht genau wissen, wie das geht und obendrein schlampert organisiert sind. Kleiner Blick ins geistige Nähkästchen vom ehrgeizigen Nachwuchs – und arroganten Establishment. Und man ahnt, wie ein Erfolg organisiert werden muss oder sollte. Alles nicht ganz einfach, besonders, wenn man noch keinen Fuß drin hat im knallharten Business. ‑ Übrigens: Künstlerische Stütze für diesen Wasserstandsbericht aus dem beruflichen Grabenkampf gab die Babelsberger Filmhochschule. Prima Professoren haben die dort!

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Dieter Hallervordens nunmehr bereits sechste Spielzeit seit der rühmlichen Wiederbelebung seines Berliner Schlossparktheaters (großes Lob fürs Durchhalten!) begann mit französischem Boulevard, prickelnd ins Deutsche übersetzt vom frankophilen Direktor höchst selbst. Titel „Die Selbstanzeige“, Autor Francis Veber.
Man wundert sich, dass solcherart entlarvend witzige wie ansteckend vergnügliche und immer exzellent „gebaute“ und so gut gebräuchliche Dramatik hierzulande so wenig heimisch wird. Liegt’s am germanischen Bierernst? Schon „Der Lügenbaron“ von Eric Assous mit einem klasse Ensemble sowie einem klasse Ensemble-Star namens Désiré Nick (Hallervorden ist nicht nur ein prima Stücke-Entdecker, sondern ein ebensolches Besetzungsbüro), also schon „Der Lügenbaron“ war mir ein großer Spaß mit allerhand ernstlichen Bezüglichkeiten.
Und nun brandneu „Die Selbstanzeige“ in deutschsprachiger Erstaufführung, eine heftig das Groteske streifende Komödie über einen arbeitslosen, einsamen armen Hund, der durch eine fingierte Selbstanzeige beim Steueramt auf sein beschissenes Dasein aufmerksam machen will – denken doch nunmehr all seine verflossenen Freund- und Liebschaften, Monsieur Pignon sei insgeheim ein reicher Kerl. Ziemlich witzig, sehr beziehungsreich.
„Nasenhaarschneider sammeln, Langstreckenschwimmen, Kinder zeigen. Ich habe in meinem Leben schon alles Mögliche gemacht – aber Theater habe ich noch nie gespielt“, sagt Wigald Boning alias Pignon, der Hauptdarsteller, über sich. Der prominente Komiker und TV-Moderator hatte nämlich im Schlosspark sein Debüt als Theaterschauspieler. Und: Er macht es wunderbar; er hat Ausstrahlung, zeigt Charakter, ist sehr viel mehr als bloß eine sympathische Fernseh-Ulknudel. Eine Entdeckung, kann man sagen.
Neben Boning diesmal gleich noch ein Bühnen-Debüt: Der TV- und Radio-Moderator Thomas Koschwitz als lakonisch trockener, aber saftig eloquenter Finanzberater Maurice. Zwei tolle Theater-Frischlinge lieferten gemeinsam mit dem quicken Ensemble unter Regie von Thomas Schendel einen neuen Hit für Didis Steglitzer kleine Weltbühne.

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Neulich flatterte mir von dem nicht unbedeutenden Fachmagazin Die Deutsche Bühne eine Anfrage auf den Schreibtisch: Ob ich nicht bei einer Castorf-Inszenierung gemeinsam mit ein paar Kollegen während der Aufführung twittern wolle. Man habe extra hinten im Parkett, letzte Reihe, ein paar Plätze reserviert, wo es nicht weiter störend auffallen würde.
Nun mag es bei Castorfs XXL-Produktionen einigermaßen machbar sein, das gelegentlich kürzere oder längere Weggucken von der Bühne und Hingucken aufs Twittergerät. Doch macht es überhaupt Sinn? Muss alle Welt sofort nach Vollzug wissen, was auf der Szene so los war an rasender Hektik oder verträumtem Stillstand? ‑ Nun ja, die Redaktion will unbedingt hip sein und mitmachen bei dem, was alle Welt macht. Womit man indirekt den üblichen Hinweis vor Vorstellungsbeginn, die hübschen Kommunikationsdinger doch bitte auszuschalten, für überflüssig erklärt. Und natürlich auch die in gutbürgerlichen Kinderstuben gelernten Anstandsregeln; wie etwa während der Vorstellung nicht zu quatschen, zu essen und zu trinken, nicht lautstark in den Handtaschen zu kramen, den Kaugummi zu blasen oder zu schnarchen. Warum also noch ein Kanon von Benimmregeln, wenn das digitale Störfeuer selbst von der seriösen Fachpresse für zeitgemäß und also statthaft gehalten wird?