17. Jahrgang | Nummer 19 | 15. September 2014

Pilsudski-Regime

von Carl von Ossietzky

Durch einen amtlichen Ukas vom 21. August ist in den polnischen Gefängnissen der Unterschied zwischen politischen und kriminellen Gefangenen aufgehoben worden. Das ist geschehen unter der Herrschaft Josef Pilsudskis, der zu drei Vierteln seines Lebens als politischer Verbrecher verfolgt wurde, der dreißig Jahre lang Putschist, Rebell und Verschwörer war, nachdem er sich als Terrorist und Sprengstoffattentäter in die Politik eingeführt hatte. Noch heute ist Pilsudski von Abenteurerromantik umweht, er wirkt wie eine Gestalt aus der vormärzlichen Charbonnerie. Dieser alte Freiheitskämpfer mit dem von Krankheit und wohl auch von Gewissensskrupeln zerfurchten Nietzschekopf, den das Schicksal bestimmt hat, der erste Führer des wiedererstandenen polnischen Staates zu werden, bezeichnet heute dessen Krise und schweres inneres Siechtum. Er stand am Taufbecken der polnischen Freiheit, heute ist er ihr Unterdrücker, morgen wird er ihren Sargdeckel zuschlagen.
Es kann und soll nicht untersucht werden, ob Pilsudski von den Schändlichkeiten weiß, die Gendarmen und Kerkermeister in seinem Namen verüben. Er hat die Demokratie durch den persönlichen Despotismus abgelöst; er haftet vor der Geschichte. Und er haftet auch vor der Gegenwart. Die Verirrungen des zweiten Pilsudski-Regimes, das im Sommer 1926 begann, sind um so beklagenswerter, als es zunächst mit einem gewissen moralischen Elan einsetzte. Pilsudski stand nicht hinter dem damaligen Militärputsch. Regimenter meuternder Soldaten zogen vor sein Landhaus und führten den widerwillig Mitgehenden im Triumph nach Warschau; der spontane Volkswille trug ihn zum zweitenmal nach oben. Pilsudskis Programm war die »Sanation«, die Reinigung der Politikerschaft und Bureaukratie von Bestechlichen und Schmarotzern. In diesem Kampf verrannte er sich. Er wollte Korruption treffen, die sich in Institutionen des Staates und der Parteien verbarrikadierte, und schlug gegen die Volksrechte schlechthin. Er wollte die Reinigung durchsetzen und hat nur den Sumpf vergrößert, nur den Gestank von Blut und Kot vermehrt. Es gibt in der Politik keine schlimmere Figur als den enttäuschten Idealisten, der die Machtmittel des Staates schrankenlos in der Hand hat, der in seiner Verbitterung und Menschenfeindlichkeit Richter und Henker auf die Fragen losläßt, vor denen seine Begabung versagte. In vielen Stücken erinnert das jetzige Regiment Pilsudskis an die letzte traurige Epoche des Präsidenten Wilson.
Seit Jahren häufen sich die Klagen aus Polen. Es liegt herzzerreißendes Material vor über Willkür von Polizei und Justiz, über Folterungen in Gefängnissen, über grausame Exekutionen, über die sogenannten Pazifizierungsaktionen in der westlichen Ukraine, wo die bäuerliche Bevölkerung schrecklich unter der Agrarkrise leidet und die Not vornehmlich mit dem Bajonett behandelt wird. In gewissen Abständen geht eine Terrorwelle durch das Land; wenn dann allzuviele Schilderungen nach außen dringen, wird wieder gebremst und die Fassade des zivilisierten Staates wenigstens notdürftig wiederhergestellt.
Die Anklagen gegen die Exzesse des Pilsudski-Regimes sind nicht parteimäßig begrenzt, sie kommen nicht von der äußersten Linken allein, und das macht sie besonders gewichtig. Sozialdemokraten, Liberale, Bürgerliche vom rechten Flügel, alle die in Opposition stehen, verfallen den gleichen barbarischen Behandlungsmethoden. Sie werden in Kerker gesteckt, die nicht menschenwürdig sind, sie werden geschlagen und Hungerqualen ausgesetzt. Untersuchungsrichter schrecken nicht vor Anwendung der Tortur zurück, Frauen werden in Polizeikammern bis aufs Blut gepeitscht. Die Vorkommnisse in der Zitadelle von Brest-Litowsk sind noch bekannt genug. Wenn ein Politiker von internationaler Berühmtheit wie Korfanty nicht einmal vor körperlichen Mißhandlungen sicher war, so kann man sich leicht vorstellen, was für ein Los dem unbekannten Fußsoldaten der Opposition zuteil wird, dem kleinen Agitator, dem Flugblattverteiler, dem Zettelkleber, wenn er das Unglück hat, in die Klauen der Ordnungsbestie zu geraten. Der Regierungserlaß, daß die politischen Häftlinge gemeinen Verbrechern gleichzusetzen sind, bedeutet nur die konsequente Fortführung des bisherigen Zustandes, bedeutet nur die Sanktionierung des administrativen Sadismus, zeigt aber auch den unbeugsam schlechten Willen der Regierenden. Daß aber eine solche Maßnahme im Namen eines alten Revolutionärs durchgeführt wird, das ist eine besondere Schande und muß Gefühle von Empörung und Scham jenseits von aller Politik erwecken.
Ein besonders abscheuliches Kapitel in der neuen polnischen Geschichte nimmt die Blutherrschaft in der Westukraine ein. Denn dort ist der Zusammenprall am ärgsten, dort wird der Terror am brutalsten angewendet. Denn dort steht nicht nur eine großenteils kommunistische Landbevölkerung gegen die Warschauer Machthaber, sondern auch eine bürgerlich-nationalistische Bewegung, die fascistisch gefärbt ist und Schrecken mit Schrecken beantwortet. Grenzerkämpfe zeichnen sich immer durch besondere Schonungslosigkeit aus; in der polnischen Ukraine mischen sich soziale und nationale Motive aufs verhängnisvollste. Die Ermordung des Abgeordneten Holowko, die jetzt große Erregung verursacht, ist auf die Unterdrückung der ukrainischen Minorität zurückzuführen. Holowko, der eine Säule der parlamentarischen Mehrheit Pilsudskis war, wurde als Renegat gehaßt. Er war früher Sozialist und hatte sich erst 1926 dem Marschall angeschlossen, als dessen treuer Diener er eine besonders herausfordernde Sprache gegen alle Opponenten führte. Vor wenigen Monaten erst hat Holowko die Ukrainer aufs Äußerste verhöhnt, indem er ihnen von der Tribüne des Sejm zurief, sie könnten sich ruhig in Genf beschweren, in Polen werde sich doch nichts ändern. Diesen Zynismus beantworteten die Ukrainer mit der Vendetta, und es ist jetzt zu befürchten, daß die Regierung wieder mit einer neuen »Pazifizierung« antworten wird, mit verstärkten Greueln, die wieder Unschuldige treffen werden. Wenn die europäische Öffentlichkeit nicht durch das Studium der sinkenden Börsenpapiere hinreichend abgelenkt wäre, so würde sie sich schon längst etwas mehr um die Zustände in Polen gekümmert haben. Auch die Herren Diktatoren herrschen nur im eignen Hause, und die Meinung der Welt kann ihnen nicht gleichgültig sein. Der polnische Staat leidet ohnehin nicht unter einer allzu großen Beliebtheit, seine häufigen Nervenanfälle werden auch von den Freunden in Paris nicht mehr so harmlos wie früher beurteilt. Den paar deutschen Politikern und Publizisten, die sich im Kreuzfeuer ihrer eignen Nationalisten um eine deutsch-polnische Verständigung bemühen, wird der Mut genommen, für die Versöhnung mit einem Staat zu plaidieren, dessen Gewalthaber die Menschenrechte außer Kurs gesetzt haben.

Aus: Die Weltbühne, 8. September 1931