von Edgar Benkwitz
Seit seinem überwältigenden Sieg bei den Parlamentswahlen in Indien und der anschließenden Regierungsbildung Anfang Juni schien es um Premierminister Narendra Modi und seiner Indischen Volkspartei(BJP) recht still geworden zu sein. Jetzt, da die ersten einhundert Tage der Regierungstätigkeit vorüber sind, prasseln Einschätzungen wie ein Monsunregen auf die neue Regierung nieder.
Dabei wird nicht mit Kritik gespart: nach dem furiosen Wahlkampf mit seinen vielen Versprechungen seien die bisherigen Ergebnisse recht mager und unbefriedigend; mehr noch: zur Politik der abgewählten Kongressregierung gebe es keinen Unterschied.
Seriöse Betrachtungen verweisen aber auf durchaus neue und ermutigende Züge in der Regierungstätigkeit. Narendra Modi habe als erstes den Respekt vor den konstitutionellen Institutionen wiederhergestellt. So sei mit der Ablösung der Kongresspartei auch das „Küchenkabinett“ der Familie Gandhi verschwunden, das den Premierminister zu einem Befehlsempfänger degradiert hatte. Jetzt sei er – wie die Verfassung es vorgibt – wieder die bestimmende politische Kraft. Modi nahm sich in den ersten Wochen viel Zeit, den Regierungsapparat auf Effektivität zu trimmen. Er verlangt von allen ein korruptionsfreies Verhalten, Verantwortung, Mitdenken und vor allem Disziplin. Das soll die Vertrauenswürdigkeit in die zentralen Organe wiederherstellen.
Kein Zweifel besteht daran, dass Modi an seinen verkündeten Zielen festhält. Vorrang hat der dringend benötigte wirtschaftliche Aufschwung. Mit ihm wird auch eine graduelle Verbesserung der Lage der Ärmsten erhofft. Aber das dürfte ein langwieriger Prozess sein. Eine durchgreifende Orientierung, die auf eine Änderung sozialer Verhältnisse gerichtet ist und beispielsweise die Lage muslimischer Bevölkerungsteile oder der Stammesbevölkerung erleichtern könnte, ist nicht in Sicht.
Von den angekündigten wirtschaftlichen Reformen sind bisher nur die Versicherungswirtschaft und die Verteidigungsindustrie betroffen, hier ist zukünftig privates Kapital bis zu 49 Prozent erlaubt. Ansonsten ist Kontinuität und Sicherung des Erreichten angesagt. So wird an Vorhaben der Vorgängerregierung angeknüpft, insbesondere an Projekte, die durch Bürokratie und Untätigkeit liegengeblieben sind. Der Gouverneur der Zentralbank, Raghunat Rajan, spricht von 50 bis 70 Milliarden US-Dollar, die hier investiert sind und relativ mühelos aktiviert werden können. Rajan, ehemaliger Chefökonom des Internationalen Währungsfonds und noch von der Kongressregierung berufen, hat bei der Konsolidierung der Staatsfinanzen erste Erfolge zu verzeichnen. Er spricht sich auch für weiterführende wirtschaftliche Reformen aus, inklusive Teilprivatisierung des umfangreichen staatlichen Sektors. Privates in-und ausländisches Kapital soll verstärkt für schon länger geplante Projekte gewonnen werden, wie etwa die Industriekorridore Delhi – Mumbai und Mumbai – Bangalore(eine Art Sonderwirtschaftszonen).
Mit dem von der Regierung kürzlich beschlossenen Programm „Digital India“ ist bis 2019 vorgesehen, Universitäten, Schulen, Krankenhäusern aber auch jeder Familie Zugriff zum Internet zu verschaffen, besonders in Verwaltungs-, Bank- und Sozialangelegenheiten. Zweifler und Spötter bemerken hierzu, dass die Bevölkerung dann zwar einen Zugang zum Internet hat, Hunderte von Millionen nach wie vor aber nicht zu Toiletten. Doch was dieses beschämende Thema der indischen Gegenwart betrifft, so zeigte Modi auch hier, dass er aus anderem Holz als seine Vorgänger geschnitzt ist. In der traditionellen Rede des Premierministers zum Tag der Unabhängigkeit prangerte er die oft entwürdigende Stellung der Frau, die Vergewaltigungen und die sanitären Probleme an. Diese Themen hatte man bisher lieber nicht zur Kenntnis genommen, schon gar nicht öffentlich. Ausgerechnet ein Angehöriger einer niedrigen Kaste(das ist Modi) führte sie nun der indischen und der Weltöffentlichkeit vor. Er dürfte sich allerdings damit in Teilen seiner hindunationalistischen BJP, die nach wie vor in archaischen Traditionen verankert ist, keine Freunde geschaffen haben.
Aus dieser Partei und ihren Massenorganisationen schlägt Modi übrigens auch heftiger Gegenwind bei der Öffnung des Landes für ausländisches Kapital entgegen. Eine Reform des privaten Einzelhandels, das die Zulassung internationaler Handelsketten einschließen sollte, wurde vorerst auf Eis gelegt – man befürchtet den Verlust von Arbeitsplätzen und damit des traditionellen Wählerpotentials.
Die Außenpolitik der neuen Regierung begann mit einer Aktion, die international große Beachtung fand. Zur Vereidigung des neuen Premierministers wurden seine Partner aus den sieben Mitgliedsstaaten der südasiatischen Regionalorganisation SAARC eingeladen. Das gab es in der fast 30jährigen Geschichte dieser Organisation noch nie und unterstreicht, dass Indien sich verstärkt den vernachlässigten Beziehungen zu seinen Nachbarn widmen will. Premier Modi untersetzte dieses Bemühen durch offizielle Besuche in Bhutan und Nepal. In Nepal war es der erste Besuch eines indischen Premiers seit siebzehn Jahren! Auch der Aufenthalt Modis in Japan wurde international aufmerksam verfolgt, vor allem unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses beider Länder zu China. Japan und Indien wollen nun „strategische und globale Partner“ werden, dazu wurde eine umfangreiche Vereinbarung abgeschlossen. Zunächst steigt Japan in indische Großprojekte ein, vor allem infrastruktureller Art, für die in den nächsten fünf Jahren 35 Milliarden US-Dollar bereitgestellt werden. Auch eine begrenzte militärische Zusammenarbeit ist vorgesehen, in der westliche Medien ein Auftreten beider Staaten gegen den „chinesischen Expansionismus“ sehen wollen. Doch davor wird sich die indische Regierung wohl hüten. Sie nennt ihre außenpolitische Ausrichtung „Look East Policy“, das schließt neben Japan, Korea, Australien und den ASEAN-Staaten auch China ein. China betreibt gegenüber Indien eine sehr aktive Diplomatie. Anfang Juni war der chinesische Ministerpräsident in Neu Delhi und Staatschef Xi Jingpin wird in diesen Tagen in Indien weilen und dabei versuchen, der verstärkten Einflußnahme Japans auf Indien entgegenzuwirken.
Doch Modi musste auch erfahren, dass es Vorbehalte gegen die indische Sicherheitspolitik gibt. Japan war nicht bereit, den erstrebten Ausbau der nuklearen Kapazitäten Indiens zu unterstützen. Der aktuelle Grund sind Äußerungen, dass Indien seine Nukleardoktrin revidieren wolle. Diese ist bisher auf den Verzicht eines nuklearen Erstschlags festgelegt. Der australische Premierminister hingegen teilte diese Bedenken nicht. Er unterzeichnete kürzlich in Neu Delhi ein Abkommen über die Lieferung beträchtlicher Mengen Uran für indische Reaktoren. Nun richtet sich die Aufmerksamkeit auf das Ende des Monats vorgesehene Treffen Narendra Modis mit Präsident Obama. Bereits jetzt wird über eine Zusammenarbeit im indischen Rüstungssektor gesprochen, seine Öffnung für privates Kapital und die Vergabe von US-Lizenzen machen das möglich.
Zweifelsohne ist die internationale Stellung Indiens seit dem Regierungswechsel beträchtlich gestiegen. Indiens Wirtschaft einschließlich ihres riesigen Binnenmarktes wirken auf viele Staaten wie ein Magnet. Auch nimmt die Attraktivität dieses großen G-20-Staates angesichts wachsender Spannungen in der Welt zu. Jeder möchte ein gut funktionierendes Indien auf seiner Seite haben! Die diplomatische Korrespondentin der Times of India, Indrani Bagshi, erinnerte allerdings daran, dass Wachstum und Entwicklung oberste Priorität besitzen, sie bestimmen das außenpolitische Geschehen des Landes. Unter den Wunschpartnern Indiens nennt Frau Bagshi auch Deutschland. Bei seinem kürzlichen Treffen mit Premierminister Modi ermutigte Außenminister Steinmeier diesen zu dem anspruchsvollen Entwicklungsprogramm und sagte dazu deutsche Unterstützung zu. Ein Höhepunkt dabei wird das Auftreten Indiens als Partnerland der Hannover Industriemesse im nächsten Jahr sein.
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