von Dieter Naumann
In der historischen Rügenliteratur wird hin und wieder von der „Kirchenferne“, das heißt von einer gewissen Distanz der Inselbevölkerung zur Kirche gesprochen. Zurückgeführt wird dies unter anderem auf die gewaltsame Christianisierung der Slawen und die teilweise unrühmliche Rolle der Kirche im Zusammenhang mit dem Bauernlegen und der Leibeigenschaft. Auch die rechtliche Ausgestaltung des Pfarrsystems auf Rügen vor der Reformation dürfte eine entscheidende Rolle gespielt haben. So waren viele Pfarreien bald nicht mehr vorrangig ein seelsorgerischer Raum, sondern eine wirtschaftliche Einheit, wurden von den Rügenfürsten nach Gutdünken gegründet und überwacht. Die eingesetzten „Pfarrer“ mussten nicht zwingend eine theologische Ausbildung nachweisen, sondern erhielten die Pfarrei zu ihrer materiellen Versorgung, oft ohne eine entsprechende Gegenleistung. Die Mühen der seelsorgerischen Arbeit wurden Vertretern übertragen, die von der Bevölkerung sarkastisch als „Godds-Wurds-Handlanger“ bezeichnet wurden. Auch Adlige „erhielten“ Kirchen und zogen daraus Einkünfte in Form von Pachten und Diensten.
Wendler wetterte in seiner 1895 erschienenen Geschichte Rügens:„[…] sie selbst (betraten) nur selten die Kanzel […], und dann nur, um den ‚Pöfel‘ mit scharfen Worten mal ins Gewissen zu reden und gegen klingende Opferspende die Sündenmakel zu erlassen. Sie selbst freilich machten es nicht besser als der Pöfel […], Latein, Griechisch und Hebräisch waren […] für sie unbekannte und längst überwundene Größen, um so genauer wußte man mit Messen, Almosen, Wallfahrten, am besten mit den Künsten des Trinkens und Schmausens, des Karten- und Brettspiels Bescheid; und um die Bestimmungen des Cölibats verstanden […] sie sich herumzudrücken“. War der Pfarrherr in Personalunion Grundherr, hielt er im Pfarrhof auch Gericht (so genannte Patrimonialgerichtsbarkeit) – was ebenfalls kaum zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen Kirchenvolk und Pastoren beigetragen haben wird.
Das Verhältnis der Mehrzahl der rügenschen Pastoren dürfte jedoch von tiefer Verbundenheit mit ihren Gemeinden geprägt gewesen sein: Die Pastoren wussten um die kleinen und großen (auch weltlichen) Probleme ihrer Schäfchen und gingen nötigenfalls auch in den Predigten darauf ein. So schilderte Franziska Tiburtius, eine der ersten deutschen Ärztinnen, Präpositus Schlichtergrull aus Poseritz habe am zweiten Weihnachtsfeiertag den Wert der Stallfütterung als Text der Predigt genommen oder ein anderes Mal über die zweckmäßige Ernährung bei Krankheit gepredigt: „Wenn ihr krank seid, ihr Leute, so kocht euch Grütze – mit eindringlich erhobenen Händen: Oh, so kocht euch Grütze!“
Die Pastoren sahen in der Erntezeit auch zumeist wohlmeinend über die Müdigkeit der Gemeindemitglieder hinweg, die die ganze Woche über die Felder bestellt und die Tiere versorgt hatten. „Nun saß man da reihenweise auf den schmalen Bänken, betete noch leidlich andächtig sein Vaterunser, schlug die Gesangbuchnummer auf und half mitsingen. Das Gotteshaus war so wunderbar kühl, der Gesang so einlullend, der Buckel des Vordermannes so breit“ – schrieb Ina Rex (Pseudonym von Alwine Amalie Louise Hinrichsen, geborene Hannemann) in ihrem 1910 erschienenen Roman Nivellierarbeit der Zeit über das Leben auf Mönchgut um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Nur der Kirchenvorsteher soll kein Mitleid mit den Schläfern gehabt, ihnen den Klingelbeutel direkt unter die Nase gehalten und „energisch“ die Glöckchen geschüttelt haben.
Apropos Gesang: Die Rüganer galten offenbar als eher sangesunwillig und fühlten sich durch Orgelspiel nicht etwa zum gemeinsamen Gesang animiert, sondern vielmehr davon entlastet. Johann Andreas Otto Odebrecht, von 1801 bis 1820 Pfarrer in Groß Zicker, klagte: „Da bei der Zickerschen Kirche kein Küster und kein Vorsänger angestellt war, und ich dies dem Prediger aufgedrungene Geschäft für unschicklich, auch der Gesundheit für nachteilig hielt, weil die Gemeinde zu hoch und schreiend singet, so traf ich […] mit dem im Singen geübten Zickerschen Einlieger Heidemann eine Vereinbarung, sowohl alle vierzehn Tage beim Gottesdienst, als auch bei Leichenbegräbnissen vorzusingen. Heidemann übernahm dies Geschäft bis zum Advent 1801, entsagte ihm aber wegen schwacher Brust.“
Einer von Odebrechts Vorgängern wäre sicher froh gewesen, wenn er nur dieses „Problem“ mit seiner Gemeinde gehabt hätte: Die Mönchguter Fischer und Bauern sollen sich nicht selten unter Hinweis auf ihre Arbeit von den Gottesdiensten gedrückt haben. Irgendwann platzte dem Pastor der Kragen. Wenn er eines Tages selbst vor den Schöpfer treten müsse, sagte er bei einer Sonntagspredigt, werde der ihn fragen, „Karl-Eduard-August – wie hast du meine Schafe geweidet?“ Unter Hinweis auf die häufigen „Fehlzeiten“ der „Schafe“ soll der Pastor geantwortet haben: „Herr, unser Gott, auf Mönchgut gibt es keine Schafe, sondern nur stinkende Böcke.“
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