von Gabriele Muthesius
Zu Beginn der Krise um die Ukraine und im Verhältnis des Westens zu Russland hat der kanadische Außenminister John Baird erklärt: „Wir müssen uns jetzt entscheiden, ob Russland unser Freund oder Feind oder Nachbar sein soll.“ Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat in einer Rede vor polnischen Botschaftern in Warschau am 23. Juli hinzugefügt: „Ich sage: Freund oder Feind können wir entscheiden – Nachbarschaft nicht.“
Die Beiträge im Blättchen, die zur Krise und in ihrem Kontext bisher erschienen sind – siehe unter anderem den Russland-Schwerpunkt in der zurückliegenden Ausgabe – gehen völlig zu Recht durchgängig von der Prämisse aus, dass Feindschaft zu Russland keine sinnvolle Option ist, eben weil in der Frage der Nachbarschaft keine Wahlfreiheit besteht. Von daher wurde analysiert, wie die jetzige Situation historisch entstanden ist und welche Chancen der Westen ignoriert hat oder verstreichen ließ, nach Ende des kalten Krieges das Verhältnis zu Russland in der einen oder anderen Form auf eine dauerhaft entfeindete Basis zu stellen.
Keineswegs verkehrt ist es darüber hinaus, wie Steinmeier ebenfalls in Warschau betonte, jetzt danach zu fragen, „welchen Platz Russland in der europäischen Sicherheitsordnung nach (Hervorhebung – G.M.) dieser Krise haben wird“. Auch das ist im Blättchen getan worden – bis hin zum Plädoyer, den Gedanken einer Sicherheitspartnerschaft mit Russland neu aufzugreifen.
Allerdings – Tango tanzen kann man nicht allein! Was in diesem Falle heißt, und mindestens Blättchen-Leser Erich Warlitz vermisste das in letzter Zeit, wie er im Forum wiederholt angemahnt hat: Der Blick muss auch auf das Agieren der Führung in Moskau gerichtet werden. Klar gefragt: Ist Russland (noch) ein potenzieller Sicherheitspartner? Diese Frage wird mit Blick auf das russische Vorgehen in der Ukraine-Krise (derzeit) nicht (mehr) reinen Herzens bejaht werden können.
Annexion der Krim – Wer eine Gelegenheit nutzt, um einen Teil des Territoriums eines Nachbarstaates einzukassieren – mit welcher Begründung auch immer –, der bewegt sich außerhalb des Regelwerkes der OSZE, das allen Teilnehmerstaaten vor allem auch ein gleiches Maß an Schutz gegen diese Art von Grenzveränderungen bieten soll. Wer dagegen verstößt, legt die Axt an das Fundament der europäischen Sicherheit und verspielt Vertrauen, das die Basis jeder Partnerschaft ist. Dass die baltischen Staaten und Polen befürchten, sie könnten die nächsten Betroffenen sein, ist allein ob ihrer NATO-Mitgliedschaft zwar weit hergeholt, kann ihnen aber angesichts ihrer Erfahrungen mit der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg niemand ernstlich verübeln.
Die Annexion der Krim kann völkerrechtlich keinen Bestand haben. Sie wird aber kurz- und mittelfristig unter Umständen ebenso wenig revidierbar sein wie die Annexion Nordzyperns durch die Türkei. Dieses Beispiel zeigt allerdings zugleich, dass die Verletzung der territorialen Integrität eines Nachbarstaates kein Grund sein muss, etwa Zusammenarbeit seitens der internationalen Gemeinschaft grundsätzlich zu verweigern.
Bürgerkrieg in der Ostukraine – Noch liegen keine belastbaren Beweise für einen aktiven Anteil Moskaus am Kriegsgeschehen in der Ostukraine oder gar für ein direktes Eingreifen des russischen Militärs über die Grenze hinweg vor. Aber: Zwar mögen die Separatisten einen Teil ihrer Waffen von der ukrainischen Armee erbeutet haben – ohne Nachschub aus Russland ist ihr hinhaltendes militärisches Agieren schlechterdings nicht vorstellbar. Es geht dabei ja nicht nur um russische Handfeuerwaffen, die gegebenenfalls auch die CIA liefern könnte, sondern zum Teil um Großwaffen und modernstes Gerät, etwa zur Luftabwehr. Ebenso wenig ist es vorstellbar, dass dieser Nachschub in einem zentralisierten System wie dem russischen ohne obrigkeitliche (mindestens stillschweigende) Billigung vonstattengehen könnte. Und wenn Putin ernsthaft daran interessiert wäre, Unterstellungen in dieser Richtung den Boden zu entziehen und den Bürgerkrieg zugleich zu deseskalieren, hätte er das propagandistische Ping-Pong-Spiel um die Frage, ob russische Armeeverbände nahe der ukrainischen Grenze disloziert oder wieder von dieser abgezogen seien, längst beenden und zum Beispiel mit eben diesen Verbänden eine Abriegelung der Grenzgebiete veranlassen können.
Absturz von MH-17 – Der Fall liegt nicht so klar, wie die Abschüsse eines südkoreanischen Airliners durch einen sowjetischen Abfangjäger am 1. September 1983 über Sachalin und einer iranischen Passagiermaschine durch den amerikanischen Kreuzer USS Vincennes über dem Persischen Golf am 3. Juli 1988. Das malaysische Flugzeug könnte natürlich auch eine Bombe an Bord gehabt haben, die just dort zur Explosion gebracht wurde, wo es für eine Schuldzuweisung an Russland und für eine (von wem auch immer gewollte) Eskalation der Ukraine-Krise am besten passte. Dann hätte Präsident Wladimir Putins sofortige pauschale Schuldzuweisung an die Ukraine allerdings trotzdem noch wie zusätzlicher Brandbeschleuniger im Hinblick auf die internationale, von Abscheu geprägte Reaktion gewirkt.
Bis zur Klärung der Absturzursache bleibt jedoch der Verdacht bestehen, dass es sich um einen Abschuss durch ein weitreichendes Luftabwehrsystem vom Typ Buk gehandelt hat. Darüber verfügen neben den russischen auch die ukrainischen Streitkräfte, denen vor Jahren bereits der unbeabsichtigte Abschuss einer russischen Passagiermaschine unterlaufen war. Dieses Mal werden die Täter – vor allem von den USA – unter den ostukrainischen Separatisten vermutet. Ob die über Buk-Systeme verfügen oder verfügten, die sie den Ukrainern abgenommen oder die sie von Russland erhalten und später womöglich nach dorthin zurückgeführt haben, ist zur Stunde offen. Eine Bedienung des komplizierten Systems ohne (mindesten) russische Unterweisung schließen Experten aber aus. Nun gilt bis zum Beweis des Gegenteils auch für Russland die Unschuldsvermutung, aber zur Entkräftung des diesbezüglichen Verdachts wird es seitens Moskau wohl nicht genügen, weiterhin nur mit dem Finger auf andere zu weisen.
Wladimir Putin – Seine heutige Einstellung im Verhältnis zum Westen hat er umrissen, als er am 22. Juli auf einer Sitzung des russischen Sicherheitsrates erklärte: „Jedes Land, das Mitglied einer Allianz ist, gibt einen Teil seiner Souveränität auf. Das entspricht nicht immer den nationalen Interessen des Landes […].“ Dies kann als offene Absage an jegliche sicherheitspartnerschaftliche Überlegungen interpretiert werden, als Rückfall in eine Position, die sich mit Schiller treffend beschreiben lässt: „Der Starke ist am mächtigsten allein.“ Das wurde zwar schon in der Interpretation von „Wilhelm Tell“ nicht unbedingt als schmeichelhaft für den Protagonisten gewertet, ist aber offenbar für große Mächte eine immer wiederkehrende Versuchung: Den anderen ohne Rücksicht auf Kosten und Konsequenzen zu zeigen, dass man tun und lassen könne, was man wolle. George W. Bush war auch einer, der so gehandelt hat – mit der bekannten Folge, dass den USA die vermeintliche Stärke zwischenzeitlich sehr nachhaltig auf die Füße gefallen ist. Dass mit einer solchen Vorgehensweise den eigenen Sicherheitsinteressen längerfristig nicht zu dienen ist, sollte die Geschichte eigentlich lehren …
Das Ziel einer Sicherheitspartnerschaft mit Russland steht heute, dieses Fazit ist zu ziehen, vor höheren Hürden als zu jedem anderen Zeitpunkt seit Ende des Kalten Krieges. Dies in absehbarer Zeit wieder zu ändern, setzte strikten Willen und Kompromissbereitschaft auch Russlands voraus. Beides ist derzeit nicht im Ansatz zu erkennen. Danach sucht man auf westlicher Seite – mit Ausnahme von Außenminister Steinmeier – allerdings auch vergeblich. Derzeit stehen die Zeichen auf Eiszeit.
Schlagwörter: Gabriele Muthesius, Putin, Russland, Sicherheitspartnerschaft, Ukraine-Krise