17. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. August 2014

Sie starben jung! Künstler und Dichter vor dem Ersten Weltkrieg

von Ulrike Krenzlin

„Ruf mich Vaterland, wenn Du mich brauchst“. Das war die Devise von Gorch Fock. 1915 folgte der Dichter seiner Einberufung mit den Worten „Sühso, – nu kummt een annern Stremel: ik ward Suldat, as Richard Dehmel“. Richard Dehmel hatte die Vorkriegsbegeisterung in intellektuellen Dichterkreisen entzündet. Gorch Fock sprach einfacheren Gemütern aus dem Herzen. Den fürs Vaterland gefallenen Soldaten mystifizierte er so geschickt, dass seine Anhängerschaft wuchs. Vor allem lebte sie noch nach dem Zweiten Weltkrieg ungebrochen weiter. Mit Geburtsnamen Johann Kinau, liefert Gorch Fock den Musterfall desjenigen Schriftstellers, der in Plattdeutsch das germanische Heldenideal vor Kriegsausbruch herauf beschwor. Der Roman des Dialektschreibers „Seefahrt ist not!“ war Bestseller. Dieser Dichter ist 1916 gefallen. Noch bis in die sechziger Jahre stand er in jedem Schulbuch der BRD. Seine Werke waren sogar in Kindlers Lexikon der Weltliteratur (bis 1988) vertreten. Heute kennt man ihn nicht mehr. Nur das 1958 (sic!) nach ihm benannte Segelschulschiff „Gorch Fock“ trägt seinen Namen weiter. Diese Position markiert einen Pol der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Krieg.
Für den extrem entgegengesetzten Pol steht der feinsinnige Lyriker Georg Trakl. Seine Verse führen uns die Verletzbarkeit des Individuums vor und legen sie bloß. Das berührt und schmerzt den Leser sehr. Erlebnis und Worte verschmelzen zum vollkommenen künstlersicher Erlebnis. „Zitternd flattern Glockenklänge, / Marschtakt hallt und Wacherufen. / Fremde lauschen auf den Stufen. / Hoch im Blau sind Orgelklänge.“ In manchen seiner Gedichte spürt man auch den Krieg. Aber niemand kommt auf die Idee, dass Trakl der Kriegverzückung eines Dehmel erlegen wäre. Trakl arbeitete als Militärmedikamenteur. Nach der Schlacht bei Grodek (Galizien) erleidet er einen Nervenzusammenbruch, kommt in das Krakauer Militärlazarett, wo er am 3. November 1914 an einer Überdosis Kokain stirbt.
Beide Beispiele, Gorch Fock und Georg Trakl, markieren die Extreme, die in dem eben erschienenen Buch „Sie starben jung! Ideen und Ideale vor dem Ersten Weltkrieg“ gesetzt werden. Dazwischen entfaltete sich jedoch ein ausdifferenziertes Spektrum von Künstlern, die sich zum Vorkrieg äußern. Die Herausgeber Burcu Dogramaci und Friederike Weimar sowie die Autoren untersuchen nur acht Künstler: Franz Marc, den Almanach „Der Blauer Reiter“, Wilhelm Morgner, Ernst Stadler, Hermann Stenner, Georg Trakl, Franz Nölken und August Stramm. Das erscheint erstaunlich wenig. Man könnte viele andere Künstlerstimmen zum Vorkriegsgeschehen aufrufen. Künstleräußerungen zum Ersten Weltkrieg sind in Monographien und Katalogen gewöhnlich beigeordnet in Briefzitaten oder Tagebuchaufzeichnungen. Sie stehen gleichwertig neben den künstlerischen Ausdrucksweisen, ja erläutern sie sogar oft. Meist enttäuschen sie die Lesererwartungen des Sinnes so, dass man sich sagt: ach, wieder Kriegbegeisterung, freiwillige Kriegsteilnahme und so weiter.
Aber diese Methode ist obsolet. Weshalb? Aktuelle Diskussionen und Publikationen zum Ersten Weltkrieg umkreisen wesentlich zwei Schwerpunkte. Der eine Schwerpunkt dreht sich um die Frage, welches Land nach Deutung von Historikern den Krieg tatsächlich ausgelöst hat. Und in welcher Folge die europäischen Mächte sich in den Kriegsverlauf hineingedrängt haben. Bei dem anderen Schwerpunkt richten Forscher ihr Augenmerk auf Fallstudien nach neuer Quellensichtung wie beispielsweise darauf, ob der Mord am Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand von Habsburg am 28. Juni 1914 tatsächlich ausschlaggebender Grund für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gewesen ist oder nur ein Vorwand dafür war. In fast jedem Ergebnis verschieben sich alte Standpunkte.
Auch die Frage danach, wie sich bildende Künstler und Dichter zur Vorkriegszeit und im Krieg geäußert haben, sollte am Maßstab der komplexen Forschungslage zum Ersten Weltkrieg gemessen werden. Sie ist also nicht mehr so einfach zu beantworten wie bisher. Kunsthistoriker sind herausgefordert, ihre Methoden auch interdisziplinär zu präzisieren. So kann nur die Expressionistengeneration von 1880 befriedigende Antwort auf die Kriegsfrage geben. Die Künstler dieser Generation sind 1914 Mitte Zwanzig. Zu Kriegsbeginn stehen sie an einem sensiblen Punkt ihrer Karriere. Weiter kann es nur um diejenigen Künstler gehen, die im Kriegverlauf gefallen sind. Weil deren Meinung zur Vorkriegszeit und als Soldaten in den Kriegsjahren wahrhaft authentisch ist. Ihr Tod verhinderte jede Meinungsänderung. Wer den Krieg überlebt hat, konnte seine Erkenntnis zur Kriegskatastrophe nachträglich ändern und sehr kritisch werden. Die berühmtesten Fälle dafür sind Otto Dix’ und George Grosz’ Nachkriegskunst. Das Nachher zählt nicht mehr.
In ihrem Sammelband „Sie starben jung!“ haben die Herausgeber Dichter und bildende Künstler hälftig gemischt. Die vergleichende Wissenschaft der Germanistik und Kunstgeschichte bringt komplett neue, aber weitgehend ungelöste Gesichtspunkte in die Problematik. Maler und Dichter sind unterschiedlich geeignet, den Kriegswahnsinn zu gestalten. Folgendermaßen: Ein Maler kann den Kriegswahn zwar in Bildern künstlerisch umsetzen. Aber dann müsste das aus dem Werk auch herauslesbar sein. Was nicht zur Deutung ausreicht ist, nur Tagebuch- und Briefstellen dafür in Anspruch zu nehmen. Der Schreibstil des Malers ist meist unkünstlerisch, um nicht zu sagen gewöhnlich. Daraus lässt sich eine künstlerische Haltung für oder gegen den Krieg nicht überzeugend ableiten. Der Expressionist Wilhelm Morgner aus Soest schreibt aus dem Kriegsgeschehen heraus: „Die Hauptsache ist, die Welt verwalkt sich. Egal wer Keile bekommt. Ich freue mich immer nur, wenn ich höre, ein neues Volk prügelt sich jetzt wieder. Jetzt die Italiener. Das wird eine ganz famose Weltpelzerei.“ Morgner fiel 1917.
Von Künstlern der ersten Garnitur wie Franz Marc und Ernst Barlach ist in deren Schriftquellen auch nicht viel anderes über die Zeit geschrieben worden. So interpretiert man gern in Marcs „Tierschicksale“ von 1913 oder in Ernst Barlachs Schwertschleuderer „ Der heilige Krieg“ (Litho, 1914), seherische Voraussagen des kommenden Kriegs hinein.
Jedoch Schriftsteller, deren Metier die Wortkunst ist, beleuchten in ihren Mitteilungen beeindruckender die furchtbaren Weltkriegsideen, deren Ideale und Visionen vom neuen Menschen. Man kann von ihnen erfahren, an welchem Punkt die Welt im August 1914 stand. Keiner der hier behandelten Künstler konnte sich noch etwas anderes als einen „befreienden“ Krieg vorstellen. Wir haben diesen Sog hin zum Krieg, den auch die meisten Künstler „schlafwandlerisch“ mit vollzogen haben, als ein persönliches Versagen angesehen. Als ob der Künstler seinem jahrhundertlangen Auftrag, ein Seher zu sein, nicht mehr gefolgt sei. In seiner Kunst ist er diesem Auftrag nicht mehr gefolgt. Wieso sollten seine Worte anders sein?
Diese erschreckende Perspektive ins Auge zu fassen, dass der Kriegssog nicht nur die Reichspolitik erfasst hatte, sondern auch die Staatmänner Europas, stimmt mit dem Ergebnis der aktuellen historischen Forschung überein. Als Christopher Clark sein Buch „Preußen – Aufstieg und Niedergang 1600-1947“ 2007 in deutscher Übersetzung vorlegte, es rasch zum Standardwerk wurde, fragte man sich verwundert, wieso gerade ein Australier das überzeugende Buch zur preußischen Geschichte geschrieben hat. Weshalb das Entscheidende nicht von deutschen Historikern kam. Im Erinnerungsjahr an den 1. Weltkrieg ist es wieder so. Clark veröffentlicht zur rechten Zeit „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“. Obwohl es zu vielen Einzelproblemen des Kriegsausbruchs wichtige Veröffentlichungen gibt, steht wieder dieses Buch von Clark im Mittelpunkt der Diskussion. Ärgerlich bemängeln einige Rezensenten die eine und andere Quelle, die Clark anhand der Findbücher nicht noch einmal neu transkribiert habe. Weswegen er mindestens einer veralteten (teilfehlerhaften) Quellenabschrift auf den Leim gegangen sei. Deswegen habe er zu seiner umstrittenen Deutung gelangen müssen. Seine These lautet so: Die Staatsoberhäupter aller am Krieg beteiligten Länder haben aus unterschiedlichsten Gründen auf den Krieg aktiv hingearbeitet. Wie sollten sich die Künstler sich zu diesem Trauma anders verhalten?

Burcu Dogramaci / Friderike Weimar (Herausgeber): Sie starben jung! Künstler und Dichter, Ideen und Ideale vor dem Ersten Weltkrieg, Gebr. Mann Verlag, Berlin 2014, 120 Seiten, 24,90 Euro.