17. Jahrgang | Nummer 18 | 1. September 2014

Querbeet (XLII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Zauber am Bodensee, WK-1-Bilder in Berlin und Wien, ein Lorbeerkranz für Günter Rühle…

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Schon im Glaslabyrinth des Züricher Flughafens perlen an stark frequentierter Stelle süße Mozartmelodien. Sie locken, zusammen mit drei mannshohen, gefährlich die Hauer fletschenden Drachenhunden (hinter Glas), zum „Spiel auf dem See“ nach Bregenz. Also rein ins Regio-Bähnle und via Sankt Gallen an die österreichische Bodensee-Küste in die Kapitale von Vorarlberg zu den alljährlichen Festspielen. Diesmal zu Mozart und seiner „Zauberflöte“ sowie dem mythischen Getier mit steilen Hörnern, spitzen Ohren, glühenden Augen und bedrohlichem Gebiss. Sie ragen 27 Meter aus dem Wasser und rahmen signifikant und weithin sichtbar die riesige Bühne, die da auf 119 Pfählen aus Fichtenholz und Stahl ruht, die sechs Meter tief und fest in den Seegrund gerammt sind – schon kleinere Lüftchen können hier stark schäumende Welle machen.
Das monumental aufragende, animalisch-martialische Trio erinnert an Kerberos, den dreiköpfigen Höllenhund und scharfen Bewacher des Eingangs zur Unterwelt. Und doch trägt ein jeder der martialischen Wächter ein irdisches und eher friedfertiges Signum: nämlich Weisheit, Vernunft, Natur. Womit klar gestellt ist: Die so drollig, lieblich, zauberisch verspielt, hell und süß daher kommende Mozartsche Liebes-Mär hat ihre dunklen, bitteren, bösen, ja grausamen Kehrseiten. Dieses so fantastisch verwobene Sowohl-als-auch hat der britische Star-Regisseur David Pountney fest im Griff in seiner vor Opulenz und Märchenhaftigkeit geradezu strotzenden „Zauberflöten“-Show. Da jagt ein sagenhafter Trick den anderen (allein die wagehalsigen Stunts!), eine optische Sensation die andere (die frappierenden szenischen Verwandlungen – und überall wimmeln seltsame Puppen und Fabelwesen).
Dafür hat man für allabendlich 7.000 Zuschauer quasi ein komplettes Opernhaus in den Bodensee gebaut mit raffiniertester Technik und 13 Containern für Künstlergarderoben allein auf der Hinterbühne. Die Wiener Symphoniker spielen – über Video sichtbar – im angrenzenden Konzerthaus. Die Übertragung und Verstärkung des Tons geht über 900 versteckte Lautsprecher – ein weltweit einzigartiges Beschallungssystem (Bregenz Open Acoustics). Überhaupt präsentiert Bregenz optisch und akustisch, technisch und ästhetisch Weltklasse. Die Festspiele klotzen nicht nur mit Masse, was sein muss im Betrieb unter freiem Himmel, sie faszinieren und berühren auch mit Klasse, mit künstlerischer Qualität. Und obendrein mit einem attraktiven Rahmenprogramm aus Konzert und Kammerspiel – und nicht zuletzt mit luxuriösem Service fürs Publikum. Ist so leicht nicht zu toppen von den nicht nur in Österreich massenhaft aufspielenden Open-Air-Events.

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Wir gedenken mit Fleiß und neuen Einsichten der Urkatstrophe des vergangenen Jahrhunderts: also Erster Weltkrieg. Dabei helfen dicke Bücher (etwa von Herfried Münkler, der wie andere auch klar stellt: die Deutschen waren nicht allein die Bösewichte); dabei helfen Ausstellungen. In Berlins Deutschem Historischen Museum wird in super klimatisierten unterirdischen Räumlichkeiten gleich einem begehbaren Bilderbuch die einschlägig heiße Geschichte groß aufgeblättert. Es ist die deutschlandweit einzige Überblicksausstellung zum Thema, so die offiziöse Angabe. Und wahrlich, der Überblick ist so umfassend wie detailreich – und erschreckend. Wie das harmlos ausschauende Rohr volkstümlichen Namens: „Nullachtfünfzehn“. Es gehört zum MG 08, eine Weiterentwicklung der amerikanischen Maxim Gun, zählend zur Standardausrüstung des deutschen Heeres. Es feuerte 450 Schuss pro Minute bis vier Kilometer weit, war aber mit seinen 78 Kilogramm Gewicht für Stellungswechsel bei Angriffsoperationen zu schwer. Ab 1917 wurde es durch das um zwei Drittel leichtere Modell mit dem berühmt-berüchtigten Code 08/15 ersetzt. Im Zweiten Weltkrieg kam es derart massenhaft zum Einsatz, dass 08/15 zum Synonym wurde für ordinär Alltägliches. Ein kleiner grausiger Exkurs am Rande bezüglich der Wurzeln von Umgangssprache.

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Auch das Heeresgeschichtliche Museum in Wien beleuchtet den Ersten Weltkrieg. Vor breit ausgemaltem Hintergrund spektakuläre Exponate: Die Pistole des Attentäters vom 29. Juni 1914, das offene Auto, in dem der Thronfolger durch Sarajevo kutschierte, ein „Phaeton“ von Graef & Stift, vier Zylinder, Baujahr 1910, die blutbefleckte Uniform des erschossenen Erzherzogs, die Chaiselongue, auf der er starb mit 51 Jahren. Erstmals veröffentlichte, von Regisseur Kurt Mündl technisch aufwändig bearbeitete Filmszenen zeigen Sophie und Ferdinand – für die Serben die „Tyrannen der Besatzungsmacht“ – in den Augenblicken vor und im Moment nach dem tödlichen Schuss aus dem Browning des 19jährigen Gavrilo Princip. Mündls Film gilt als sensationelles, einzigartiges Dokument, sozusagen der Startschuss vom Ende der Herrschaft der Habsburger (und anderer Herrschaften). Ihre Nachfahren heute, Karl und Georg Habsburg, zwei unauffällig biedere Herren im grauen Straßenanzug im Wochenendmagazin „Österreich“: „Ein Film, der geschichtstreu die Vergangenheit mit neuen Bildern bereichert.“ Wir fügen hinzu: suggestive Bilder eines grausigen Tods, gerahmt von unzähligen Bilddokumenten, die das millionenfache und weitaus grausamere Menschenschlachten zeigen.

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In den Kontext der WK I-Ausstellungen passt das bereits vor sieben Jahren bei Fischer erschienene Buch „Theater in Deutschland. 1887 bis 1945“. Es hat das Zeug zur Bibel für alle, die wie auch immer am Theater, an seiner und an allgemein deutscher Geschichte hängen. Und wurde in langer, akribischer Schreib- und Forschungsarbeit verfasst von dem Publizisten Günter Rühle.
Noch nie gab es eine solche Zusammenschau, eine derart detailreiche und anschauliche Erzählung der einzigartigen „großen Kurve“, die das deutsche Theater zwischen Kaiserreich und Nazikapitulation hatte. Wir erwarten sehnlichst Band zwei der Monografie über das Theater in Deutschland nach 1945 bis in die nahe Gegenwart, der – endlich! – im Herbst erscheinen soll.
Rühles singuläre Leistung liegt in seiner grandiosen Fähigkeit zur, wie er sagt, „rekonstruktiven Fantasie“, die aus der Fülle der Archive die Vielfältigkeit und Stärke, die Irrtümer, Zäsuren und Kontinuitäten der vergangenen Szene, also die „ruhm- und lehrreiche Biografie des Theaters und seiner Menschen“ packend vor uns auf tausend Seiten ausbreitet. Gegen den „horrenden Verlust historischen Bewusstseins“. Rühles trefflich finales Wort: „Theatermachen entspringt spontaner Lust, hat mühsame Praxis, will abendlichen Erfolg, ist aber utopische Arbeit.“
Der verehrungswürdige Herr war einst Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dann ein stets allem Klassischen sowie dem seiner Ansicht nach wirklich Neuem zugeneigter Theaterdirektor des Schauspiels in Frankfurt am Main, dann Feuilletonchef des Berliner Tagesspiegels. Just vor drei Monaten feierte Günter Rühle seinen 90. Geburtstag. Ich gratuliere nachträglich und verneige mich tief vor einer grandiosen Lebensleistung, die immer darauf aus war, Theater und Leben, Kunst und Politik und also auch Geschichte – höchst lehrreich für uns alle – zusammen zu denken.