17. Jahrgang | Nummer 18 | 1. September 2014

Qualitätsjournalismus 3.0

von Septentrionalis

Manchmal sitze ich wirklich fassungslos vor Artikeln in selbst erklärten Qualitätsmedien: Im Bestreben, auch aus den lahmsten Fakten noch eine Sensation herauszukitzeln, wird da die Wahrheit von den Füßen auf den Kopf gestellt – und der Leser für dumm verkauft –, dass es nur so scheppert. Beispiele dafür hat unter anderem Spiegel Online schon wiederholt geliefert. „Rüstungsausgaben im Vergleich: Russland hängt Europäer ab“, titelte das Medium vor ein paar Wochen. Unter Bezug auf die Zahlen des renommierten Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) wurde in dem Beitrag der Eindruck erweckt, die russische Militärmaschinerie würde Europa zunehmend bedrohen. (By the way: Beginnend mit der Überschrift und in bester Westmanier wurde Russland dabei implizit einmal mehr aus Europa verbannt.) Die (West-)Europäer müssten daher viel mehr für ihre Rüstung tun und die Ausgaben kräftig steigern. Als aktueller Aufhänger dienten behauptete Befürchtungen des US-Präsidenten: „Die Ansage von Barack Obama war deutlich: Viele europäische Regierungen haben ihre Wehretats zurückgefahren, monierte der US-Präsident […]. Jeder der 28 Nato-Mitgliedstaaten müsse seinen Anteil für die Verteidigung leisten. In Zeiten der Ukraine-Krise und einer zunehmend als Bedrohung empfundenen Politik Russlands sehen die Amerikaner ihre europäischen Verbündeten als militärisch untergewichtig.“
Zu seiner Einschätzung „Russland hängt Europäer ab“ gelangte der namentlich nicht genannte Autor über eine Verhältniszahl: „Betrachtet man die Rüstungsausgaben im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung, haben wichtige EU-Staaten ihre Entwicklung in den vergangenen zehn Jahren eher zurückgefahren, während Russland kräftig zulegte.“ Mal ganz davon abgesehen, dass die Formulierung etwas merkwürdig klingt, macht einen das ja richtig furchtsam („Der Russe kommt!!!“). Aber der Autor legt vorsichtshalber noch eine Kohle drauf: Russland gehöre „zu den 23 Staaten weltweit, die ihre Ausgaben für Rüstung seit 2004 mindestens verdoppelt haben. Der Anteil am jährlichen Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg um 108 Prozent. 2013 überholte Russland sogar die USA.“ Irreführender kann man gar nicht „argumentieren“.
Fangen wir mal mit der Bezugszahl Rüstungsausgaben zu BIP an. Will man die Belastung des jeweiligen Landes und seiner Bürger durch die Rüstungsausgaben ermessen, dann ist sie sinnvoll. Gäbe ein Land auf Dauer einen zu hohen Prozentsatz seiner erwirtschafteten Mittel für Rüstung aus, kann das katastrophale wirtschaftliche und dann auch gesellschaftliche Folgen haben. Die ehemalige Sowjetunion wusste am Ende ein Lied davon zu singen. Aber für die Bedrohungslage der Nachbarländer ist das Verhältnis Rüstungsausgaben zu BIP eher belanglos. Monaco könnte 97 Prozent seines BIP für Streitkräfte ausgeben und könnte Frankreich dennoch nicht gefährlich werden. Man könnte es auch umgekehrt sagen: Wenn an der Grenze feindliche Panzer auffahren, dann kann es den Verteidigern herzlich egal sein, wie viel Wirtschaftskraft zu ihrer Herstellung aufgewandt worden ist. Buchstäblich in den letzten Sätzen seines Beitrages schwante dem unbekannten Spiegel Online-Autor sein Unsinn wohl doch irgendwie, denn er schob zur Putin-Bedrohung vorsichtshalber noch nach: „Auch nominal sind die russischen Militärausgaben beachtlich. 2013 beliefen sie sich laut Sipri auf 87,8 Milliarden Dollar und lagen damit im europäischen Vergleich unangefochten an der Spitze. Spitzenreiter bleiben hier allerdings die USA mit 640 und China mit 188 Milliarden Dollar, obwohl die USA einen Rückgang um 7,8 Prozent verbuchte.“
Allerdings unterschlug er, dass auch die (West-)Europäer nicht so wehrlos sind, wie seine Überschrift „Russland hängt Europäer ab“ suggerierte. Fasst man nämlich Frankreich (2013: 46 Milliarden Euro), Großbritannien (44), Deutschland (37), Italien (25) und Spanien (10) zusammen, kommt man auf immerhin 162 Milliarden Euro. Das ist fast das Doppelte des Putin-Etats. Und was sagen bei Rüstungsausgaben schon die Zahlen für ein Jahr aus? Heer, Flotte und Luftwaffe werden über lange Zeiträume aufgebaut. Nimmt man mal ein Jahrzehnt, dann haben die oben genannten, angeblich so schlaffen (West-)Europäer seit 2004 fast 1.600 Milliarden Euro in ihre Armeen gepumpt, die angeblich so starken Russen hingegen keine 400 Milliarden, also nicht einmal ein Viertel. Da verbleiben im Hinblick auf den Schreiber solcher Zeilen eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist er strohdoof und hat sich in seiner eigenen Argumentation verheddert oder er hat bewusst gelogen beziehungsweise einen isolierten Aspekt aus Sensationsgier so überdreht, dass die daraus hergeleitete Aussage schlicht und einfach falsch ist. Diese Alternative bildet im Hinblick auf Qualitätsjournalismus keine wirklich beruhigende Wahlmöglichkeit an.
Noch ein Beispiel gefällig? Spiegel Online titelte ebenfalls „Weltweite Militärausgaben: Alle rüsten auf – außer den USA“, um dann einen ebenfalls unbekannten Autor mitteilen zu lassen, dass die USA 2013 ihre Militärausgaben auf 460 Milliarden Dollar reduziert hätten. Aber nicht mal diese Zahl stimmte. Tatsächlich waren es aber 640 Milliarden Dollar – laut SIPRI, siehe oben – und damit mehr, als die im Ranking nachfolgenden neun Staaten (China, Russland, Saudi-Arabien, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Japan, Indien, Südkorea) zusammen verpulverten. Das heißt dann eben: „Alle rüsten auf – außer den USA“!