von Mario Keßler
Der Historiker Walter Laqueur, 1921 in Breslau geboren und 1938 dort vertrieben, gehört zu den produktivsten Vertretern seines Berufes. In Palästina arbeitete er im Kibbutz und als Journalist. Diesem Beruf blieb er als politischer Publizist auch dann treu, als ihm über Stationen wie London, Tel Aviv und Chicago die erfolgreiche akademische Laufbahn gelang. Zuletzt lehrte er Neuere Geschichte an der Georgetown University in Washington. Er schrieb rund vier Dutzend Bücher zur Zeitgeschichte des Nahen Ostens, der Sowjetunion, zum Holocaust sowie zur Geschichte des Terrorismus. Er ignoriert sein Alter (das ihn nicht immer ignoriert) und ist weiterhin schriftstellerisch tätig, wie seine aktuelle Essaysammlung zeigt.
Sie enthält 26 Beiträge, die fünf Themenkreisen zugeordnet sind: Optimismus in der Politik, Europa, der arabische Frühling, Israel und jüdische Fragen, Erinnerungen an die Vergangenheit. Hier sei auf je einen Beitrag aus diesen Themen verwiesen:
Im Essay, das dem Band den Titel gibt, warnt Laqueur davor, dem Historiker allzu sehr zu glauben, sobald dieser Zukunftsprognosen abgibt. Eine genaue Kenntnis der Vergangenheit könne zwar bei der Beurteilung der Gegenwart und näheren Zukunft helfen. Doch sei der Historiker von seinen bewussten wie unbewussten Vorurteilen, Wünschen und Ängsten geprägt wie jeder andere Mensch. Das Gros der Experten zur Geschichte und Politik der Sowjetunion habe bis 1989 daran festgehalten, das Land ihres Interesses befinde sich auf dem Weg zur sozialistischen Zivilgesellschaft und sogar zu einem Wohlfahrtsstaat. Das sei ebenso falsch gewesen, wie der überbordende Optimismus vieler Nahost-Experten beim Beginn des arabischen Frühlings ein schlechter Ratgeber gewesen sei.
„Europäische Zukünfte“ ist ein Essay im zweiten Teil überschrieben. Hier wiederholt Laqueur seine Warnungen vor einer – von ihm als eine Möglichkeit gesehenen – Auflösung der Euro-Zone (siehe auch: Das Blättchen vom 16. September 2013). Neben wirtschaftlichen Schwierigkeiten benennt er vor allem den in letzter Zeit dramatisch angewachsenen Nationalismus und Rechtspopulismus als Gefahren für den Zusammenhalt der Europäischen Union. Auf lange Sicht werfe auch die niedrige Geburtenrate in vielen europäischen Ländern Probleme auf, und dies gelte nicht minder für die Schwierigkeiten bei der Integration von Zuwanderern aus Ländern, in denen westliche Werte nicht hoch im Kurs stehen.
Vier Wortmeldungen zum arabischen Frühling schließt sich ein Interview an, das Laqueurs jüngst verstorbener Kollege, der israelische Nahost-Experte Barry Rubin, mit ihm führte. Darin betont Laqueur, dass nur die Unfähigkeit der gestürzten Regime, ihrer Jugend eine sinnvolle Lebensperspektive zu bieten, für einen derartigen Zulauf zum militanten Islam gesorgt habe. Dieser sei kein weltgeschichtlich dauerhaftes Phänomen, doch könne er in den nächsten Jahrzehnten solange eine Säkularisierung arabischer Gesellschaften verhindern, bis den Menschen allmählich klar werde, dass er ihre sozialen Probleme nicht lösen werde.
Interessanterweise sucht Laqueur in Israel, wo Optimismus bei politischer Analyse kaum angebracht ist, positive Entwicklungen auszumachen, so in einem Essay über die Kibbutzim. Diese hätten die ökonomische Transformation in eine Industriegesellschaft geschafft und seien aus Agrargenossenschaften zu modernen Wirtschaftseinheiten geworden. Der Kibbutz Shamir, in dem er vor siebzig Jahren lebte, war damals bitterarm wie alle Kibbutzim. Heute ist er einer der größten Produzenten von Kontaktlinsen und kann seinen Mitgliedern einen Lebensstandard bieten, von dem frühere Generationen nicht zu träumen wagten.
Wichtige Einblicke in die tragischen Seiten seines Schicksals gibt Laqueurs schlicht mit „1938“ überschriebener Beitrag. Es zeigt den Siebzehnjährigen, der sich in letzter Minute aus Deutschland retten konnte, was seinen Eltern und vielen seiner Verwandten und Freunden nicht mehr gelang. In bewegenden Passagen erinnert er an sie und ihr zerstörtes Leben.
All dies hat Laqueur zum Skeptiker, doch nicht zum Pessimisten werden lassen. Ideologien misstraute und misstraut er. Im vorliegenden Buch bricht er eine Lanze für Marx, doch nicht unbedingt für den Marxismus, dem er gleichwohl aufgeschlossen gegenüber tritt. Er stellt sich vor, dass ohne die Schüsse von Sarajevo die Welt eine andere geworden wäre, der Weltkrieg hätte ausbleiben können. Hier ist Widerspruch angesagt. Die imperialistischen Großmächte waren einfach nicht darauf „geeicht“, ihre Widersprüche friedlich in einer Zeit zu lösen, in der sich fast niemand – Friedrich Engels und der ältere Helmut von Moltke waren seltene Ausnahmen – ein solches Massenschlachten vorstellen konnte. Gern aber folgt der Rezensent Walter Laqueurs Phantasien, der sich im Europa ohne Krieg 1916 Olympische Spiele in Berlin als Weg zur internationalen Integration ausmalt.
Pessimismus sei, so Laqueur, eine natürliche Reaktion auf politische Entwicklungen, wie wir sie gegenwärtig sehen. Er lähme jedoch Gedanken und Handeln, sei also keineswegs hilfreich. Er sei keine Alternative, sondern das Pendant zum falschen Optimismus, und beide würden für die Zeitprobleme blind machen.
Walter Laqueur: Optimism in Politics. Reflections on Contemporary History, Transaction Publishers, New Brunswick (New Jersey) 2014, 251 Seiten, 49,95 US-Dollar.
Schlagwörter: Historiographie, Mario Keßler, Walter Laqueur