von Petra Pau
Über ein Jahrzehnt zog ein Nazi-Trio namens „Nationalsozialistischer Untergrund“, NSU, mordend und raubend durch Deutschland – unerkannt und unbehelligt. Das ist die offizielle Version. Man muss viele Fragezeichen wegwischen, um ihr arglos zu folgen. Am 4. November 2011 flog die Bande nach einem erneuten Banküberfall, diesmal in Eisenach, auf. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhard erschossen sich in ihrem Fluchtmobil. Beate Zschäpe, die Dritte im Bunde, sprengte Stunden später das gemeinsame Domizil in der Zwickauer Frühlingsstraße. So lautet die amtliche Darstellung. Und wieder bohren Zweifel. Auf das Konto der NSU-Bande gehen neun kaltblütige Hinrichtungen aus rassistischen Motiven. Hinzu kommt der Mord an der Polizistin Michele Kiesewetter. Und ausgerechnet in Eisenach sollen sich die Serien-Killer selbst gerichtet haben, weil die örtliche Polizei nahte? Und von wem erfuhr eigentlich Beate Zschäpe in Sachsen kurz darauf vom Tod ihrer Kumpane in Thüringen? Gab es ein plötzliches Finale mit einem NSU-intern vereinbarten „Plan B“? Oder agierten da doch noch andere, geheim, in wessen Diensten auch immer. Verschwörungsbeschwörer finden Stoff ohne Unterlass. Am 22. August 2014 war ich in Thüringen, in Erfurt, im Landtag. Tags zuvor hatte sein parlamentarischer Untersuchungsausschuss einen Abschlussbericht veröffentlicht. Nun wurde er im Plenum diskutiert. Zwei Urteile liefen durch fast alle Medien. Die Fahndung nach den drei Neo-Nazis war ein „Fiasko“, ja „Desaster“. Und: Der Ausschuss wirft den Verfassungsschutzämtern eine „mittelbare Unterstützung“ und „Begünstigung“ rechtsextremer Strukturen vor. Kurzum: Der Verfassungsschutz schützte nicht das Grundgesetz, sondern deren erklärte Gegner. Gründlicher können Behörden sich nicht ad absurdum führen.
Dabei geht es immer wieder auch um die unsägliche V-Mann-Praxis im Nazi-Milieu. V-Leute sind keine netten Informanten von nebenan, sondern gekaufte Spitzel und bezahlte Täter, Hardcore-Nazis. Im Untersuchungsausschuss des Bundestages mangelte es dafür nicht an Belegen. Zum Beispiel Carsten S.: Er wuchs im alten West-Berlin, in Neukölln, auf. Nach der deutschen Einheit siedelte er nach Königs-Wusterhausen um und hatte als militanter Nazi alsbald einen Ruf, weit über die Grenzen der Mark Brandenburg hinaus. Anfang der 1990er Jahre versuchte er gemeinsam mit anderen Kumpanen einen Nigerianer zu erschlagen, zu verbrennen, zu ersäufen. Das Opfer wurde in letzter Sekunde gerettet. Carsten S. erhielt eine mehrjährige Haftstrafe und qualifizierte sich damit offenbar zum V-Mann des Verfassungsschutzes, Deckname „Piatto“.
Sein V-Mann-Führer, ein Beamter des Verfassungsschutzes, chauffierte „Piatto“ fortan zuverlässig aus der Haft zu Nazi-Treffs und einschlägigen Konzerten. Seine dort gesammelten Eindrücke schilderte Carsten S. flugs in einem Szeneblatt, das er in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg an der Havel produzierte. In Nazi-Kreisen wurde dies anerkennend quittiert. Später erfolgten weitere Hafterleichterungen. Er absolvierte ein Praktikum in Sachsen. Erfolgreich, wurde ihm attestiert. Das überzeugte die Brandenburger Richterin, die über seine Entlassung aus dem Strafvollzug entscheiden sollte. Zumal Carsten S. zudem eine Festanstellung in Aussicht hatte. Er kam als Fast-Mörder vorzeitig frei, weil vermeintlich geläutert, mit der klaren Auflage, sich fürderhin strikt von Nazis fernzuhalten.
Was die Richterin nicht wusste: Das Praktikum hatte „Piatto“ mit Hilfe des Verfassungsschutzes in einem Nazi-Szene-Laden in Sachsen absolviert. Und fest angestellt sollte er eine neue Filiale desselben Nazi-Treffs im Raum Berlin-Brandenburg eröffnen. Der Verfassungsschutz hatte „Piatto“ also geholfen, als Nazi noch aktiver zu werden und obendrein die Brandenburger Justiz getäuscht. Ähnliche Fälle förderten die Untersuchungsausschüsse en masse zu Tage.
2006 hatte die NSU-Bande in Kassel den Betreiber eines Internet-Cafés hingerichtet. Zur Tatzeit war ein Beamter des Verfassungsschutzes am Tatort. Sein Spitzname: „kleiner Adolf“. Sein Ruf war nicht ohne. In seiner Wohnung fanden sich Hinweise auf ein ausgeprägtes Interesse am Hitler-Faschismus. Andreas Temme war zugleich V-Mann-Führer, unter anderem in rechtsextreme Gruppen hinein. Er und sein Umfeld gerieten also ins Visier der ermittelnden Kriminalisten. Dagegen begehrte der Verfassungsschutz auf. Der Streit mit der Polizei eskalierte. Der Innenminister Hessens, politisch zuständig für beide, entschied schließlich: gegen die Kriminalisten, für den Verfassungsschutz. Der Schutz „geheimdienstlicher Quellen“ habe Vorrang vor Mordermittlungen.
Im Zuge der Untersuchungen zum NSU-Nazi-Mord-Desaster kam der Verfassungsschutz immer mehr in Erklärungsnot, in Verruf. Der Präsident des Bundesamtes, Heinz Fromm, quittierte 2013 vorzeitig seinen Dienst. Andere ebenso oder sie wurden entlassen, so die Chefs der Landesämter Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Konsequent? Mitnichten! Der damalige V-Mann-Führer von „Piatto“, Gordian Meyer-Plath, wurde 2013 zum neuen Präsidenten des Landesamtes für Verfassungsschutz Sachsen berufen. Der Innenminister, der 2006 beim NSU-Mord in Kassel Ermittlungen gegen einen Beamten des Verfassungsschutzes untersagte, Volker Bouffier (CDU), wurde inzwischen Ministerpräsident von Hessen. Klaus-Dieter Fritsche (CSU) wiederum hatte vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages das massenhafte Schreddern von Akten verteidigt und die Aufklärungsbemühungen der Parlamente als „Skandalisierungs-Wettstreit“ diffamiert. Danach wurde er zum Staatssekretär der Bundesregierung berufen, zuständig für die Koordinierung aller Geheimdienste.
Die Ausschussarbeit im Bundestag begann 2012 übrigens mit einer Anhörung zur Entwicklung des Rechtsextremismus in West und Ost, über Nazi-Hochburgen und terroristische Strategien in Deutschland, Europa, weltweit. Insbesondere die Journalistin Andrea Röpcke beeindruckte mit ihrem Vortrag. Mein Kollege Clemens Binninger (MdB/CDU), ein erfahrener Kriminalist, dankte ihr. So eine fundierte Übersicht hätte er gerne einmal von den zuständigen Sicherheitsbehörden gehört. Sagte er. Später wurde bekannt: Der Verfassungsschutz führte eine Akte – über die Expertin Andrea Röpcke. Und auch das sei noch erwähnt, weil es mehr als eine Episode war. Am 22. August 2014 sprach im Thüringer Landtag auch Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU). Sie sagte sinngemäß: Was sehr viele Kollegen der Sicherheitsbehörden wissen, dürfe gewählten Parlamentariern nicht vorenthalten werden. Hinter diesen schlichten Worten steckt eine unglaubliche Geschichte. 2013 ließ die Thüringer Landesregierung die Polizei beim Verfassungsschutz einrücken und Akten sichern, bevor sie vernichtet werden. Die Dokumente wurden dem Untersuchungsausschuss im Thüringer Landtag übergeben und dem Bundestag in Aussicht gestellt. Die Reaktion folgte prompt. Die Innenminister im Bund und in allen anderen Bundesländern erwogen, die Thüringer Landesregierung wegen Verrats anzuklagen, hieß es. Obendrein habe es Pläne gegeben, die Bundespolizei in Marsch zu setzen. Sie sollte die Lkw mit den geheimen Akten auf ihrer Fahrt nach Berlin abfangen. Zu dieser Offenbarung kam es letztlich nicht. Aber sie drohte von Staats wegen. Seit Mai 2013 stehen Beate Zschäpe und weitere Angeklagte im Münchener NSU-Prozess vor Gericht. Warum der „Verfassungsschutz“ wegen Sabotage von Ermittlungen nicht ebenfalls auf der Anklagebank sitzt, muss der General-Bundesanwalt beantworten. Und die Politik! Immerhin agierte er als Schutzpatron, wenn nicht gar als Helfershelfer gefährlicher Nazis. Auch deshalb sind die Ämter für Verfassungsschutz als Geheimdienste aufzulösen. Und die V-Leute-Praxis aller Sicherheitsbehörden ist generell einzustellen. Sofort!
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