von Heino Bosselmann
Es gehen allerlei Gespenster um in Europa. Nur: Immer weniger scheinen sich für den Spuk zu interessieren, solange der siegreiche Kapitalismus eine Sattheit garantiert, die kritische Massen verhindert und von Protest fernhält. Wird schon! Mehr Bildung! Mehr Europa! Mehr Mitbestimmung! Aber wer denn bildet sich und europäisiert wirklich? Wer kann oder will kompetent mitbestimmen? Irgendwo ticken kreuzgefährliche Krisen in den gesellschaftlichen Betriebssystemen. Man hört aber, glücklicherweise kümmern sich Spezialisten darum, und deswegen wird es schon irgendwie gut gehen.
Jetzt, da alle, selbst die Ärmsten, politisch offenbar zur Mitte gehören und die sozialen Selektionen durch suggestive Gerechtigkeitsrhethorik weggetröstet werden, vermitteln die Schriften Werner Pirkers auf erfrischende Weise Schulbeispiele marxistischer Analyse und weisen nach, dass dieser Blick auf die Politik gerade nicht veraltet ist, sondern von den selbsterfüllenden Prophezeiungen neoliberalen Denkens befreit.
Pirker war Redakteur der „Volksstimme“, des Zentralorgans der Kommunistischen Partei Österreichs, und als solcher von 1986 bis zum Ende der Sowjetunion Moskau-Korrespondent. Ab 1994 wechselte er zur „jungen welt“ nach Berlin und wurde deren Chefredakteur. Später arbeitete er als freier Journalist und Autor.
Das Inhaltsverzeichnis versammelt seine Schriften in vier Blöcken. Der erste widmet sich dem Untergang der Sowjetunion: „Die Wiederherstellung kapitalistischer Produktionsverhältnisse in Russland, die einen Akt beispielloser sozialer Grausamkeit darstellte, bedurfte umgekehrt der Eliminierung des Demokratismus. Jelzins Antwort auf die bolschewistische Losung ‚Alle Macht den Sowjets!’ konnte folgerichtig nur lauten: ‚Keine Macht den Sowjets!’ Er zerschlug indes nicht den alten bürokratischen Apparat, sondern dessen bürokratische Gegenmacht. […] Zwar glaubte ich nicht, dass Gorbatschow von Beginn an die kapitalistische Restauration im Sinn hatte, doch die innere Logik der Perestroika drängte nach und nach in diese Richtung. […] Zu guter Letzt nutzte die organisierte Kriminalität im Bündnis mit der korrumpierten Bürokratie die Wirtschaftsreformen zum Eigentumsputsch.“
Der zweite Abschnitt wendet sich der Restauration des Imperialismus zu, die sich selbst als positiver Globalisierungsprozess versteht. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der neuen Rolle der USA, deren Strategie zwischen den einzelnen Präsidentschaften seit Bush sen. weniger abwechselt, als gemeinhin von den Medien dargestellt, sondern den Bedürfnissen der amerikanischen Wirtschaft folgt und in deren Sinne eine Macht- und Weltordnungspolitik im Sinne Carl Schmitts betreibt.
Als einer der wenigen verfügt Pirker über den politischen Scharfsinn zu erkennen, dass selbst die Linke in den Prozess der weltkapitalistischen Restauration einbezogen ist: „Der imperialistische Internationalismus wurde zur Leitidee, über die sich auch eine ehemals antagonistisch gesinnte Linke in den neoimperialistischen Konsens einbinden ließ. Überhaupt galt es in den Zeiten des vermeintlichen Übergangs zur weltweiten Zivilgesellschaft als ‚retro’, das hässliche Wort ‚Imperialismus’ überhaupt noch in den Mund zu nehmen. Zwar löste auch die ‚Globalisierung’ als Umschreibung für imperialistische Expansion nicht ausschließlich positive Reaktionen aus – die Kritik an ihr führte sogar zu einer neuen Oppositionsströmung reformistischer Orientierung. ATTAC und die Sozialforen geben sich der Hoffnung hin, die finanzmarktgetriebene Globalisierung in eine von unten organisierte transformieren zu können.“
Das dritte Kapitel thematisiert das „Weltproblem Nahost“. Pirker kritisiert darin die pauschale Rechtfertigung der Politik Israels innerhalb der Linken: „Die Durchsetzungsfähigkeit der neoliberalen Hegemonie erweist sich nicht zuletzt an der Korrumpierung linken Bewusstseins. Einer der entscheidenden Ansatzpunkte dafür ist die Zionismusapologie. Das zionistische Projekt erscheint auch vielen Linken als adäquate Antwort auf den Antisemitismus.“
Letztlich erörtert der Autor die „neoliberale Internationale“, der es seit der Ära Thatcher-Reagan gelang, die Weltwirtschaft dem Diktat der Chicago-Boys und den Vorstellungen Hayeks und Friedmans zu unterwerfen, die schon in den Siebzigern im faschistischen Chile ausprobieren konnten, welche Folgen es hat, wenn nach den Maßgaben betriebswirtschaftlicher Rechnerei durchregiert wird. Es gelang dem alternativlos erscheinenden Kapitalismus später, seine Aggressivität als „Menschenrechtsimperialismus“ zu kaschieren, der die „Tugenden“ der Profiterwirtschaftung mit einem „pfäffischen Humanismus“ verband.
Besonders interessant, dass Pirker sich nicht kritiklos bereit zeigt, der von der Mitte bis zur Linken ausgegebenen Parole „Kampf gegen rechts!“ zu folgen: „In den Jahrzehnten des Kalten Krieges, als die Gesellschaft auf den antikommunistischen Konsens eingeschworen war, war Antifaschismus, wenn überhaupt, dann nur in seiner totalitarismustheoretischen Relativierung zugelassen. Nach dem Ende des Kommunismus aber ist die Verurteilung des Naziregimes als das absolut Böse zu einer Dauerverpflichtung der Meinungseliten geworden. […] Nicht linke Aufklärung, sondern rechte Gegenaufklärung, die den Zusammenhang von Faschismus und Kapitalismus verhüllt und darüber hinaus die Nazibarbarei in einen direkten Gegensatz zur kapitalistischen Rationalität stellt, liegt dem zeitgeistigen ‚Antifaschismus zugrunde.“ Vielmehr, so Pirker, wäre zu fragen, „warum sich der zeitgenössische Kapitalismus in einer Zeit massiven Sozial- und Demokratieabbaus sowie des allgegenwärtigen imperialistischen Krieges ‚antifaschistisch’ zu präsentieren und damit den Eindruck zu vermitteln vermag, als hätte es des Neoliberalismus bedurft, damit endlich dem Vermächtnis der Opfer von Auschwitz Genüge getan werde.“
Insbesondere interessiert den Journalisten der Zusammenhang zwischen „Neocons“ und Neoliberalen: „Denn bei den ‚Neocons’ handelt es sich im Grunde um rabiate Liberale, die den linken Menschenrechtsinterventionismus aufgriffen und auf die Spitze trieben. Die Umkehrung der Werte, wie sie der Faschismus betrieb, findet im Neoliberalismus seine Neuauflage.“ Und zwar insofern, als dass dort, wo der Faschismus rassistisch selektierte, der Neoliberalismus all jene ausgesondert sehen möchte, die sich ökonomisch als nicht effizient genug erweisen. „Der reflexhafte Antifaschismus verkennt, dass der zentrale Angriff auf die Demokratie nicht von rechtsaußen, sondern aus dem liberalen Zentrum erfolgt.“
Typisch marxistisch sind es nach Pirker eher die Gesellschaftsordnungen, die wirken, während es viel weniger um den Menschen geht. Sicher, man kann, man muss von Systemen ausgehen, nur lässt das mit dem einzelnen Akteur gleich die gesamte Anthropologie beiseite, worin schon immer eine gewisse Schwäche des Marxismus lag, die sich im Begriffskonstrukt vom „subjektiven Faktor“ offenbarte.
Der Kapitalismus ist nicht als fremdes Übel über die Welt gekommen. Nein, er ist ein Deal zwischen Menschen. Offenbar passen seine Grundsätze utilitaristisch mit den menschlichen Streben nach Glück zusammen. Das schließt brutale Ausbeutungs- und Aneignungsprozesse ein. Im Gegensatz zum „wissenschaftlichen Kommunismus“ musste den Kapitalismus niemand erfinden, und es mag sogar sein, in einem erweiterten Sinne herrschte er schon immer. Keine Frage, dass er Extreme offenbart, die korrigiert werden müssen, sollen sie sich in Ausplünderung der Ressourcen nicht gegen die Welt und gegen den Menschen selbst wenden.
Indem er auf seine Weise das Erbe der Aufklärung antrat und deren idealistischen Ballast mit übernahm, indem er versuchte, eine sich materialistisch verstehende Philosophie mit idealistischen Mitteln zu betreiben, hatte es der Marxismus immer schwer. Er analysierte ökonomisch sehr klar, setzte aber eine geradezu metaphysische Hoffnung in den Menschen, von der er noch stets enttäuscht wurde. Auch Werner Pirker fällt die Kritik des Ökonomischen leichter als das Aufzeigen von Alternativen für den nun mal problematischen Menschen, der stets so unzureichend zu Theorien passt.
Werner Pirker: Dialektik der Konterrevolution. Schriften gegen Restauration und Weltordnungskriege, Promedia Verlag, Wien 2014, 17,90 Euro.
Schlagwörter: Heino Bosselmann, Imperialismus, Marxismus, Neoliberalismus, Werner Pirker