von Evgeny Morozov
Vor kurzem brachte Oral-B, eine Tochterfirma des US-Konsumgüterkonzerns Procter & Gamble, eine Smartguide-Zahnbürste für das „vernetzte Badezimmer“ auf den Markt. Die Zahnbürste kommuniziert mit dem Smartphone, wo eine entsprechende App den Fortschritt der verschiedenen Reinigungsaufgaben überwacht (Haben Sie Zahnseide benutzt? Ihre Zunge gebürstet? Gründlich gespült?) und durch Bildchen auf dem Display die Mundpartien kennzeichnet, die weiterer Aufmerksamkeit bedürfen. Aber wichtiger noch, die Zahnbürste „zeichnet die Daten über Ihre Zahnreinigungsaktivitäten auf, damit Sie diese selbst kontrollieren und mit Ihren professionellen Zahnpflegern besprechen können“ . Was genau mit diesen Daten passiert – ob sie den „professionellen Zahnpflegern“ oder der Krankenversicherung mitgeteilt werden, bei Ihnen zu Hause bleiben oder zu den anderen Daten hinzugefügt werden, die Facebook und Google bereits über Sie besitzen – ist eine zunehmend kontrovers diskutierte Frage. Die plötzliche Erkenntnis, dass Daten, die Alltagsgeräte wie eine „smarte“ Zahnbürste oder die „intelligente“ Toilette sammeln, zu Geld gemacht werden können, hat den Widerstand gegen die Datensammelwut von Facebook, Google und Co. geweckt. Die populistische Forderung lautet: Die großen Datenmonopolisten zerschlagen und durch Kleinunternehmer ersetzen! Jeder von uns soll als freischaffender Datenmakler sein eigenes Datenportfolio verwalten – wir verkaufen den Zugang zu unserem Genom, wenn eine Pharmafirma Interesse zeigt, oder veräußern unser Bewegungsprofil für einen Rabatt im Restaurant um die Ecke.
Die jüngsten Bücher von Alex Pentland und Jaron Larnier schließen sich dem Optimismus an und versprechen eine Zukunft, in der es sowohl Privatheit gibt – wenn Daten als Eigentum gelten, könnten strenge Eigentumsrechte, verbunden mit modernen Kontrolltechnologien, sicherstellen, dass kein Dritter sie sich unrechtmäßig aneignet – als auch wirtschaftliche Sicherheit. Wie das gehen soll? Dank des „Internets der Dinge“ und der Vermehrung intelligenter Geräte kann jede unserer Handlungen aufgezeichnet – und versilbert – werden: Irgendwo findet sich immer jemand, der Geld dafür bietet, zu wissen, welche Liedchen wir unter der Dusche trällern. Ganz so weit ist nur deshalb nicht, weil unseren Duschen noch die Klangsensoren und die Internetverbindung fehlen.
Die Kampflinien sind klar. Wenn Google uns intelligente Thermostaten wie Nest in die Wohnung setzt, wird natürlich Google – und nicht wir selbst – das Trällern unter der Dusche versilbern. Das Prinzip ist simpel: Google führt die Daten aus den unterschiedlichsten Quellen – von selbst steuernden Autos, intelligenten Brillen, E-Mails – zusammen, wobei sich die Nützlichkeit für den User aus seiner Omnipräsenz ergibt. Wir müssen Google-Dienste wie Gas in alle leeren Räume unserer digitalisierten Alltagsexistenz eindringen lassen, damit sie das Beste für uns herausholen können.
Angesichts der schieren Größe von Googles Datenspeicher ist jede Vorstellung, eine Konkurrenz zu dem Internetgiganten aufzubauen, unrealistisch. Die einzige Alternative scheint, den populistischen Schlachtrufen zu folgen und Googles Expansionshunger zu durchkreuzen, indem man darauf besteht, dass die Daten automatisch dem Nutzer gehören, der sie produziert, oder wenigstens eine Beteiligung an den Gewinnen fordert. Beide Positionen stehen bei aller Unterschiedlichkeit bloß für zwei verschiedene Strömungen innerhalb derselben politischen Tradition.
Wie der britische Soziologe Will Davies gezeigt hat, passt die Zukunft, die uns Lanier und Pentland anbieten, zum Ordoliberalismus deutscher Prägung, der die Aufrechterhaltung der Konkurrenz auf dem freien Markt als moralisch geboten begreift und alle Monopole grundsätzlich für gefährlich hält. Die Verfahrensweise von Google passt besser zum US-amerikanischen Neoliberalismus der Chicagoer Schule, die eher nach Effizienz und dem Wohl des Konsumenten fragt und nicht nach moralischen Überzeugungen. Für sie sind Monopole nicht prinzipiell von Übel, sondern manchmal sogar sozial positiv.
Die Wortführer der aktuellen Technologiedebatte geben sich gern innovativ und revolutionär, sind aber weder das eine noch das andere: Schon mit dem Grundgedanken, dass Information eine Ware sei, stehen sie fest auf dem Boden des neoliberalen Paradigmas. Schließlich dient auch die Informationstechnologie dem Zweck, Zeit zu kaufen.
Statt einfach hinzunehmen, dass Informationen Warencharakter haben, könnte man sie auch nicht ökonomisch – zum Beispiel als Gemeingut – auffassen. Aber das geschieht nicht, weil die Technologie heute der Deus ex machina ist, der Arbeitsplätze schafft, die Wirtschaft ankurbelt und die Steuereinnahmen ersetzt, die den Staaten verloren gehen, weil die reichen Eliten und internationalen Großkonzerne ihre Einnahmen in Offshore-Finanzplätzen verstecken. Information nicht als Ware zu behandeln hieße, die einzige Quelle, die den politischen Entscheidungsträgern noch zur Verfügung steht, unangezapft zu lassen.
Die britische Regierung hat die Potenziale der Informationstechnologie früh erkannt und lukrative, wenngleich umstrittene Pläne zum Verkauf von Patientendaten an Versicherungsunternehmen und von Immatrikulationsdaten an Mobilfunkanbieter und Softdrinkhersteller entwickelt (im ersten Fall musste sie aufgrund massiver öffentlicher Proteste einen Rückzieher machen). Einer aktuellen (teils von Vodafone finanzierten) Studie zufolge könnte es der britischen Wirtschaft mehr als 16,5 Milliarden Pfund einbringen, wenn den Verbrauchern das Verwalten – sprich: Vermarkten – ihrer eigenen Daten erleichtert würde. Dabei habe die britische Regierung die Grundlage dafür zu schaffen, dass sich neue Datenmakler in das Verhältnis zwischen Verbrauchern und Dienstleistern einschalten können.
Diese offiziellen Bemühungen, sich „Zeit zu kaufen“, werden durch entsprechende Versuche von unten ergänzt, die vor allem von Start-ups im Silicon Valley ausgehen. Neue Onlineportale wie der Privattaxidienst Uber oder Airbnb (zur Vermittlung privater Unterkünfte) werden durch die Hoffnung beflügelt, dass sich dadurch langweilige analoge Vermögenswerte in profitable Dienstleistungen verwandeln lassen, die das Einkommen ihrer Besitzer aufbessern. Oder wie es der Airbnb-Gründer Brian Chesky ausdrückt: „Bei der hohen Arbeitslosigkeit und einer weitgehenden Einkommensgleichheit haben wir hier eine Goldmine unter unseren Füßen […] Früher lebten wir in einer Welt, in der die Leute ihre eigenen Inhalte schufen, aber jetzt können wir uns unsere eigenen Jobs und vielleicht sogar unsere eigenen Industrien schaffen.“ Hört, hört!
Silicon Valley, stets zur Stelle, wenn es darum geht, aus einer Gegenkultur Kapital zu schlagen, hat sich einfach die gemeinschafts- und geschenkorientierte Rhetorik früherer Versuche zur Überwindung der neoliberalen Agenda zu eigen gemacht und präsentiert Start-ups wie Uber und Airbnb als Teil einer „Ökonomie des Teilens“ (sharing economy) – jener von Anarchisten und Libertären herbeigesehnten utopischen Zukunft also, in der Menschen ohne Umwege und Vermittler direkt miteinander in Beziehung treten. De facto findet jedoch eine Verdrängung von Dienstleistern wie Taxiunternehmen durch Informationsvermittler wie Uber statt – der obendrein so notorische Anarchisten wie Goldman Sachs an seiner Seite hat.
Da Taxibetriebe und Hotelketten allgemein unbeliebt sind, wurde alsbald der Kampf zwischen mutigen, innovativen Jungunternehmern und etablierten, trägen, einfallslosen Monopolisten ausgerufen. In dieser verzerrten Vorstellung bleibt freilich ausgeblendet, dass die Mitarbeiter der Start-ups dieser „Ökonomie des Teilens“ zu Bedingungen arbeiten, die man nur als vorsozialstaatlich bezeichnen kann: Die soziale Absicherung ist minimal; die Angestellten übernehmen Risiken, die ehedem der Arbeitgeber trug; es gibt kaum Möglichkeiten, Arbeitsbedingungen und Löhne kollektiv auszuhandeln.
Gerechtfertigt wird dieses Prekariat mit Phrasen, die Friedrich Hayek alle Ehre machen würden: Wenn wir erst einmal die gesetzlichen Vorschriften durch Feedbackmechanismen ersetzt haben – wenn also der Markt die Qualitäten eines Fahrers oder Gastgebers beurteilt –, können wir uns jegliche präventive Regulierung sparen. Fred Wilson, der mit seinem Union Square Ventures Risikokapital für Start-ups einsammelt, hat es kürzlich folgendermaßen formuliert: „Wenn wir den Zustand erreicht haben, in dem die Systeme sich wirklich selbst regieren und regulieren, brauchen wir keine Regulatoren mehr.“ An den Punkt werden uns ewige und allgegenwärtige Feedback-Schleifen bringen, die in Wahrheit lediglich Einschätzungen von Marktteilnehmern sind.
Die Digitalisierung des Alltagslebens und die Gier des Finanzkapitalismus drohen alles – vom eigenen Genom bis hin zum Schlafzimmer – in produktive Vermögenswerte zu verwandeln. Esther Dyson, Aufsichtsratsmitglied von 23andme, dem Marktführer im Bereich personalisierter Genomik, sagte, ihr Unternehmen sei „wie ein Geldautomat, der Ihnen Zugang zu dem Reichtum verschafft, der in Ihren Genen verborgen liegt“ .
Selber schuld, wer sich dem Heil verweigert, das der Geldautomat aus Silicon Valley verspricht. Aus der „Ökonomie des Teilens“ auszuscheren, wird früher oder später als Wirtschaftssabotage und Verschwendung kostbarer Ressourcen angesehen werden, die, nutzbar gemacht, das Wirtschaftswachstum beschleunigen können. Am Ende wird die Weigerung, zu „teilen“, ebenso viele Schuldgefühle auslösen wie die Weigerung, zu sparen oder zu arbeiten oder seine Schulden zu bezahlen, und wieder einmal wird der dünne Firnis der Moral dazu dienen, die Ausbeutung zu verschleiern. So ist es nur folgerichtig, dass die weniger Glücklichen, die bereits unter der Last der Sparpolitik ächzen, ihre Küchen in Restaurants, ihre Autos in Taxis und ihre persönlichen Daten in Vermögenswerte umwandeln. Was bleibt ihnen anderes übrig? Aus der Sicht des Silicon Valley ist dies ein Triumph des Unternehmertums – eine spontane technologische Entwicklung, die mit dem Hier und Jetzt der Finanzkrise nicht das Geringste zu tun hat.
Dank der zunehmenden Liquidität der Daten und verbesserter Analyseinstrumente zapfen Banken bereits heute Big Data an, um auch den „Unbilanzierbaren“ noch einen Kredit anzudrehen und gleichzeitig die wahren Abweichler zu identifizieren und auszusondern. Start-ups wie ZestFinance, das mehr als 80.000 Indikatoren zur Bonitätsprüfung heranzieht – darunter Tastsensoren auf Ihrer Tastatur und Ihrem Telefon -, helfen den Banken schon heute bei der Entscheidung, ob ein Online-Antragsteller kreditwürdig ist oder nicht. Statt darüber zu diskutieren, wie sich das iPad auf die kognitiven Funktionen unseres Gehirns auswirkt, sollten wir lieber überlegen, was die Sparmaßnahmen unserer Regierungen mit den Informationen zu tun haben, die unser iPhone sammelt.
Evgeny Morozov ist Journalist und Blogger. Autor von „Smarte neue Welt: Digitale Technik und die Freiheit des Menschen“, München (Blessing) 2013.
Aus: Le Monde diplomatique vom 8.8.2014. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
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Schlagwörter: Alltagsleben, Digitalisierung, Evgeny Morozov, Finanzkapitalismus, Google, Technologie