von Wolfgang Kubiczek
„Verstand wird Rußland nie verstehn,
Kein Maßstab sein Geheimnis rauben;
So wie es ist, so laßt es gehn –
An Rußland kann man nichts als glauben.“
Fjodor Iwanowitsch Tjuttschew (1803-1873)
In seinem annähernd 700 Seiten umfassenden Werk betrachtet Dietmar Neutatz dieses Bonmot des russischen Lyrikers eher als Herausforderung. Die „russische Seele“ sieht er nicht als Gegenstand seines Buches. Sein Anliegen ist zu verstehen, „was sich im vergangenen Jahrhundert in Russland ereignet und welche Entwicklungen dieses Land durchlaufen hat.“
Zwei methodische Aspekte stellt Neutatz voran: Zum einen ist das die Beachtung der Vielgestaltigkeit Russlands, beispielsweise des Unterschieds zwischen den großen Städten und dem „Rest“ des Landes. Sie bedingt eine Parallelität von Lebenswelten, die sich mitunter gravierend voneinander unterscheiden. Zum anderen ist das der Referenzrahmen. Der Autor spricht sich für ein Konzept von Moderne aus, „das sich nicht nur auf das westeuropäisch-nordamerikanische Verlaufsmuster beschränkt und dieses … zur Norm erhebt, sondern eines, das für unterschiedliche Varianten von Moderne offener ist.“
Eingangs beschäftigt sich das Buch mit den gesellschaftlichen Entwicklungen im ausgehenden Zarenreich. Das hatte um die Jahrhundertwende eine territoriale Ausdehnung von 22,4 Millionen Quadratkilometern (heute 17 Millionen). Von den damals zehn größten Städten sind heute nur noch zwei – Moskau und St. Petersburg – im Bestand der Russischen Föderation.
Für den Autor ist unstrittig, dass Russland vor allem seit 1890 von einer gegenüber den westlichen Industrieländern um einige Jahrzehnte verschoben Wandlungsdynamik erfasst wurde. Die Großen Reformen unter Alexander II., die Bevölkerungsexplosion und die Industrialisierung bewirkten grundlegende Veränderungen und erzeugten zugleich Konflikte, die nicht bewältigt wurden.
Auf Basis des Slawophilentums kam es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, vor allem als Reaktion auf den polnischen Aufstand von 1863, zu einer aggressiven Entfaltung des großrussischen Nationalismus. Es ging vor allem um Territorien, die mehrheitlich von Weißrussen und Ukrainern bewohnt waren, aber in denen polnische Gutsbesitzer eine starke Position innehatten. Diese Polen, schreibt Neutatz, galten den russischen Nationalisten zusammen mit den Juden als Fremdkörper. Großrussland, „Kleinrussland“ (Ukraine) und Weißrussland wurden als integrale Einheit betrachtet, die nicht durch Abtrennung oder Polonisierung zerstört werden dürfte. Die offen verfolgte kulturell-sprachliche Russifizierung zielte vor allem auf die Ukrainer, denen man eine ethnische Eigenständigkeit absprach. Allerdings hatte die Förderung der russischen Kultur nicht die Auslöschung der anderen Kulturen im Sinne einer homogenen russischen Nation zur Folge.
Die Industrialisierung hatte, laut Neutatz, 1885 die Phase des selbsttragenden Wachstums erreicht. Aufgrund von Mangel an Kapital und unternehmerischer Initiative übernahm der Staat wesentliche Funktionen bei der Akkumulation des Kapitals. Kernstück der staatlichen Investitionen war der Eisenbahnbau und der Bereich Kohle und Stahl. Ein Muster, das sich in der russischen Geschichte mehrfach wiederholte, war die Durchsetzung der ökonomischen Modernisierung unter Vernachlässigung der Bedürfnisse der Bevölkerung.
Der Erste Weltkrieg verschärfte die sozialen Verhältnisse und trug maßgeblich zum Zusammenbruch der Zarenherrschaft bei. Die russische Armee erlitt immense Verluste. Bis Anfang 1917 waren 1,7 Millionen russische Soldaten gefallen. Die in der Februarrevolution 1917 an die Macht gekommene bürgerliche Regierung setzte den Krieg fort, was entscheidend zu ihrem Sturz beitrug. Neutatz sieht dann in der Oktoberrevolution einen von Lenin und Trotzki geplanten Putsch, räumt aber ein, dass das, was danach an Umsturz der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse folgte, insgesamt schon die Bezeichnung „Revolution“ rechtfertige, dass es den Bolschewiki gelang, „… Antworten auf die anstehenden Kernprobleme zu geben und sich auf diese Weise in den Städten und bei den Soldaten eine Massenbasis zu schaffen.“
Dazu gehörten die für Neutatz „plakativen“ Dekrete über den Frieden und über den Boden, die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts für alle Völker Russlands, die Verstaatlichung der Banken, die Trennung von Kirche und Staat. Bürgerkrieg und ausländische Intervention führten alsbald zu einer Eskalation der Gewalt, wobei der Autor zugesteht, dass der Entschlossenheit zur Gewalt „insofern eine Logik inne (wohnte), als das bolschewistische Projekt der kompletten Umgestaltung des Landes friedlich gar nicht umzusetzen war.“ Das andere Gesicht der Revolution sieht er im Bruch mit tradierten Normen und Lebensweisen, so das Dekret über die Liquidierung des Analphabetentums, die polytechnische und antiautoritäre Ausrichtung des Bildungswesens, Öffnung der Universitäten für Arbeiter, rechtliche Gleichstellung der Ehepartner, Erleichterung von Scheidungen, Legalisierung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, Gleichstellung außerehelicher Kinder, Befreiung der Frau durch Bereitstellung von Einrichtungen zur Kinderbetreuung.
Die zwanziger und dreißiger Jahre waren geprägt durch die Machtkonzentration bei J.W. Stalin und die Entfaltung des Massenterrors. Neutatz bezeichnet den Stalinismus als eine „Mobilisierungsdiktatur“: „Allerorten wurde gekämpft, gestürmt, wurden Fronten eröffnet, Feinde ausgemacht und besiegt, Feldzüge unternommen, Schlachten geschlagen.“ Terror und Repressionen waren konstitutive Merkmale der Herrschaft Stalins, die 1937/38 ihren traurigen Höhepunkt erreichten. Die Bilanz des Terrors ist erschreckend: 1937/38 wurden mehr als 3,14 Millionen Menschen verhaftet. Mehr als 682.000 wurden aus politischen Gründen zum Tode und rund 663.000 zu Gefängnishaft oder Verbannung verurteilt.
In der gleichen Zeit erzielte das Land infolge der ersten beiden Fünfjahrpläne (1928-1937) „eindrucksvolle quantitative Erfolge“. Aus dem Agrarland wurde ein Industriestaat. An Produktionsvolumen belegte die Sowjetunion Ende der dreißiger Jahre hinter den USA den zweiten Platz in der Welt. Dieser quantitative Sprung wurde durch einseitige Ausrichtung der Volkswirtschaft auf die Schwerindustrie erreicht, was den Grundstein für wirtschaftliche Disproportionen in der Zukunft legte.
Für Neutatz sprich vieles dafür, dass die sowjetische Außenpolitik jener Zeit als eher defensiv zu interpretieren ist. So erfolgten 1934 der Beitritt zum Völkerbund und die Orientierung auf die Erhaltung des Status quo in Europa durch ein Konzept der kollektiven Sicherheit. Hauptziel war es zu verhindern, dass die Westmächte sich mit Hitler verständigten und sich gemeinsam gegen die Sowjetunion wandten. Dieses strategische Denkmuster, so der Autor, verleiht der abrupten Wende zum Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 einen Sinn.
Nach Erstem Weltkrieg, Revolution, Bürgerkrieg und stalinistischem Terror musste das Land für den Sieg im Zweiten Weltkrieg einen noch höheren Preis an Menschenleben und Zerstörung zahlen: 26,6 Millionen Tote, etwa dreizehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Im Vergleich dazu verloren England 0,9 und die USA 0,3 Prozent. Die Zahlen verdeutlichen, so der Autor, wo der Krieg vorrangig stattfand und wo er entschieden wurde.
Chruschtschows Politik der Entstalinisierung in den fünfziger und sechziger Jahren würdigt der Autor als dessen „wichtigste innenpolitische Leistung“. Der staatliche Terror gegen die eigene Bevölkerung wurde beendet. Erstmals seit 1917 konnten die Menschen beginnen, ein normales Leben ohne ständige Angst zu führen. Zugleich gelangen technische Durchbrüche – 1957 der erste Sputnik, 1959 eine unbemannte Mondlandung und 1961 der erste Weltraumflug eines Kosmonauten – die verdeutlichten, dass die Sowjetunion auf dem Gebiet der Raketentechnik die Führungsrolle gegenüber den USA übernommen hatte. Die Euphorie des Aufschwungs verleitete Chruschtschow zu der unrealistischen Zielsetzung, die USA in der Pro-Kopf-Produktion bis 1970 zu überholen. Daraus wurde die These abgeleitet, dass die Überlegenheit des Kommunismus mit friedlichen Mitteln erreichbar sei und daher die Vermeidung eines möglichen Krieges Ziel jeder Politik sein müsse. Die geweckten Erwartungen konnten jedoch nicht erfüllt werden. 1964 wurde Chruschtschow entmachtet. Seine Nachfolger setzten auf Konsolidierung, statt beschleunigter Entwicklung.
Breschnew sah die sowjetische Moderne, so Neutatz, im Wesentlichen als Versprechen auf Wohlstand und soziale Sicherheit. Der Sowjetstaat wurde nicht mehr als Diktatur des Proletariats, sondern als ein Staat des ganzen Volkes gesehen. Er vermerkt, dass dieser Kurs insofern riskant war, als er sich nun über die Garantie von sozialer Sicherheit und Wohlstand legitimierte und damit vom ökonomischen Erfolg abhängig machte. Die Sowjetwirtschaft aber verzeichnete seit Ende der sechziger Jahre stagnierende Produktivität und Effizienz sowie Innovationsschwäche und das Festhalten am alten Industrialisierungsmodell. Der Übergang von einer extensiven zu einer intensiven Wirtschaft misslang. Das Wohlstandsgefälle zum Westen, Versorgungsengpässe – all das, so stellte Neutatz fest, führte jedoch nicht dazu, dass die sowjetische Bevölkerung das politische System und die sozialistische Gesellschaftsordnung in Frage stellte.
Beim Tod Breschnews 1982 befand sich das Land in einer schwierigen Lage. Die osteuropäischen Verbündeten wurden immer mehr auch politisch zu einer Bürde, die Lasten des Afghanistan-Abenteuers und des Überengagements in der Dritten Welt sowie der Rüstungswettlauf mit den USA gestalteten die äußeren Entwicklungsbedingungen immer problematischer. Gorbatschow hatte 1985 die Politgerontokratie beerbt und durch eine radikale Reformpolitik (Perestroika) versucht, das Land aus der Krise zu steuern. Schwerpunkte waren Austausch der Eliten, Beschleunigung des Fortschritts, Transparenz und Offenheit (Glasnost) begrenzte Liberalisierung der Wirtschaft, Demokratisierung der politischen Strukturen sowie ein idealistischer Ansatz in der Außenpolitik („Neues Denken“).
Dass diese Politik „im ökonomischen Kollaps, dem Zusammenbruch der Sowjetmacht und im Auseinanderfallen des Imperiums endete“, schreibt Neutatz, „lag nicht an ungünstigen Umständen, sondern an der prinzipiellen Verkennung der Problemlage durch Gorbatschow selbst.“ Er hätte mit seinen Reformen eine Lawine losgetreten, die ihn nun selbst überrollte. Der Autor sieht Gorbatschow gewissermaßen als Zauberlehrling, der Kräfte freisetzte, die seiner Kontrolle entglitten. Er schließt sich einer Deutung an, „die Reformansätze der Perestroika kritisch zu bewerten und das Ende der Sowjetunion … nicht als natürliches Ergebnis einer Kausalkette zu betrachten, dass zwangsläufig eintreten musste.“ Immerhin hätten der Staat und seine Gesellschaftsordnung über sieben Jahrzehnte Bestand gehabt und existentielle Krisen überdauert, in denen es der Bevölkerung erheblich schlechter gegangen war. Er räumt aber ein, dass es eine starke Verkürzung wäre, die Ursachen für den Zusammenbruch vollständig in die Perestroika zu verschieben, da ein monokausaler Erklärungsversuch offensichtlich unzureichend sei.
Der Untergang der Sowjetunion im Herbst und Winter 1991 war Ausgangspunkt eines Systemwechsels. Den Kern des Wechsels zur Marktwirtschaft ab 1992 unter Mitwirkung westlicher Experten bildeten die Liberalisierung (Freigabe der Preise und des Handels, Schaffung eines Kapitalmarktes, Öffnung des Marktes nach außen) und die Privatisierung des Staatseigentums. Die Phase der kleinen Privatisierung über ein Vouchersystem dauerte bis Mitte 1994. Die zweite Phase der Privatisierung von Großbetrieben und strategischen Industriekomplexen vollzog sich danach bis 1998. In dieser Zeit akkumulierte eine kleine Schicht Neureicher mit oft kriminellen Mitteln ein riesiges Vermögen an lukrativen Energie- und Rüstungsbetrieben. Die aus diesen Machenschaften hervorgegangenen Oligarchen unterstützten Jelzin bei seiner Wiederwahl 1996, Ausdruck einer korrupten Verflechtung unternehmerischer Interessen mit der Politik. Der Übergang zur Marktwirtschaft führte zu einem beispiellosen Absturz der russischen Volkswirtschaft und zur Verarmung großer Bevölkerungsgruppen. Das Bruttosozialprodukt schrumpfte Mitte der neunziger Jahre auf die Hälfte des Wertes von 1989.
In formeller Hinsicht war der normative Wechsel zum Rechtsstaat grundlegend, die Verfassungs- und Rechtswirklichkeit wich aber häufig von den hehren Prinzipien ab. Obwohl in der Verfassung nicht vorgesehen wurde bereits unter Jelzin der Präsident zur übermächtigen Institution. Außenpolitisch wurden in dieser Zeit die Interessen Russlands mit denen des Westens identifiziert. Der russische Wunsch, in die Institutionen des Westens integriert zu werden und einen Bündnisvertrag mit den USA zu schließen, wurde ignoriert. Als Supermacht wurde Russland nach 1990 international nicht mehr wahrgenommen.
Zum Jahrtausendwechsel wird Putin auf Empfehlung Jelzins mit 52,6 Prozent zum neuen Präsidenten gewählt. Angesichts der schweren sozialen Verwerfungen waren Demokratie und Marktwirtschaft in den Augen der Mehrheit diskreditiert. Es entstand ein wachsender Wunsch nach Einmischung des Staates in die Wirtschaft und nach einem starken Politiker, der die Macht des Gesetzes wiederherstellt. Die autoritären Tendenzen, die Putin in seiner Amtszeit einführte, entsprachen der Erwartungshaltung einer breiten Mehrheit. Putin setzte die marktwirtschaftlichen Reformen fort, begann jedoch den Einfluss einzelner Oligarchen auf die Politik zu beschneiden. Damit gewann der Staat seine Handlungsautonomie gegenüber den Großunternehmen zurück. Wirtschaftlich wurde Russland seit 1999, gestützt auf hohe Weltmarktpreise im Rohstoffsektor, zu einer der am schnellsten wachsenden großen Volkswirtschaften. Politisch arbeitete Putin daran, die Autorität der Staatsmacht zu stärken und verfolgte das Ziel der Wiedergeburt Russlands als respektierte internationale Großmacht. „Putin gelang es, Russland zu konsolidieren und auch außenpolitisch wieder mehr Respekt zu verschaffen“, so Neutatz. Zugleich stellt er fest, dass das Ergebnis seiner Politik zugleich eine Entdemokratisierung des politischen Systems zur Folge hatte. „Ob es sich dabei um ein Übergangsregime handelt … oder ob sich die ‚gelenkte Demokratie’ dauerhaft als eine autoritäre russische Variante des marktwirtschaftlichen Systems etablieren wird, wird die Zukunft weisen“, schließt Neutatz seine Betrachtungen. Da schon einige Zeit seit dieser Diagnose vergangen ist, kann man anmerken, dass wohl eher letzteres der Fall zu sein scheint.
Für den deutschen Leser liegt ein empfehlenswertes Buch vor, das einen umfassenden und in leicht verständlicher Sprache geschriebenen Einblick in die jüngere Geschichte des Landes gibt. Sie war immer Bestandteil der europäischen Geschichte und stand stets in enger Wechselwirkung zu Deutschland. Ein Sachregister hätte den guten Eindruck noch abgerundet. Aus dem Buch lassen sich viele Bezüge zu heutigen Entwicklungen ableiten, Kenntnisse, die so manchem Schreiber über Russland gut tun würden.
Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. Verlag C.H.Beck, München 2013, 688 Seiten, 29,95 Euro.
Schlagwörter: Dietmar Neutatz, Russland, Wolfgang Kubiczek