von Mario Keßler
Nicht nur die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik Deutschland hat einen ihrer originellsten, produktivsten und streitbarsten Vertreter verloren, sondern generell die intellektuelle Diskursgemeinschaft. Er war kein Mann im wissenschaftlichen Elfenbeinturm, sondern mischte sich in alle gesellschaftlich relevanten Debatten ein. In den Annalen der Zunft wird vor allem sein Einsatz für eine moderne Sozialgeschichte verewigt sein, die die herrschafts- und politikzentrierte traditionelle Sichtweise in Frage stellte und gegen alle Widerstände schließlich überwand.
Geboren am 11. September 1931 in Freudenberg bei Siegen, gehörte Hans-Ulrich Wehler wie die fast gleichaltrigen späteren Kollegen Hans und Wolfgang Mommsen zu jener Generation Deutscher, die jung genug waren, um nicht in den Eroberungs- und Vernichtungskrieg der Nazis hineingezogen zu werden. Zugleich war Wehler alt genug, um den Sieg der Alliierten über das Nazireich als eine Befreiung in jeder Hinsicht zu begreifen.
Nach dem Abitur studierte er Geschichte, Soziologie und Ökonomie in Köln, Bonn und Athens/Ohio. Seitdem gehörte der komparative Blick auf die Nachkriegsgesellschaften der Bundesrepublik und der USA zu den Prämissen seines Denkens und Forschens. 1960 wurde er bei Theodor Schieder mit einer Arbeit über die SPD und die nationalen Minderheiten in Deutschland vor 1914 promoviert. Seine 1964 an der Universität Köln vorgelegte erste Habilitationsschrift, „Aufstieg des amerikanischen Imperialismus 1865-1900“, wurde nicht zuletzt wegen seines in der westdeutschen Historikergilde damals überhaupt nicht „gängigen“ Imperialismus-Begriffes abgelehnt. Erst im zweiten Anlauf konnte sich der junge, originell denkende und formulierende Wissenschaftler 1968 habilitieren – mit seiner Abhandlung „Bismarck und der Imperialismus“. Einer kurzen Professur an der Freien Universität in Berlin-West folgten die wirkungsreiche Tätigkeit an der Alma mater in Bielefeld sowie zahlreiche Gastdozenturen im Ausland, vor allem in den USA.
In Bielefeld entwickelte Wehler zusammen mit seinem Kollegen und Freund Jürgen Kocka einen Forschungsschwerpunkt zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, dessen Wirksamkeit weit über Deutschland hinausreichte. 1975 bis 1996 war er Herausgeber der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“. Das unikate Periodikum sah sich sogleich heftigen Angriffen konservativer Historiker ausgesetzt und geriet alsbald Marxismus-Verdacht – hinsichtlich des Spirtus rector Wehler völlig zu Unrecht. Der selbstbewusste Wissenschaftler wusste sich der Attacken erfolgreich zu erwehren. Sein sozialgeschichtlicher Ansatz, der politische, wirtschaftliche und später auch mentalitätsgeschichtliche Probleme integrierte, zeigte sich zuerst in seinem in zahlreichen Auflagen erschienenen Buch „Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918“.
Mit der These von einem deutschen Sonderweg, der das Wilhelminische Kaiserreich von wesentlichen demokratischen Entwicklungen Westeuropas abgeschnitten habe, sorgte Wehler für Aufsehen. Obwohl seine zugespitzten Auffassungen keineswegs unumstritten waren und sind, verstand er es damals wie später, durch pointierte Fragen Forschungsprobleme produktiv anzustoßen. Verdienstvoll war und bleibt auch das von ihm initiierte und mit Fachkollegen realisierte Projekt über deutsche Historiker. Das neunbändige Werk entriss zahlreiche bis dahin vom etablierten Wissenschaftsbetrieb totgeschwiegene Historiker wie Ludwig Quidde, Gustav Mayer und Arthur Rosenberg der unverdienten Vergessenheit.
Meriten über seine Zunft hinaus erwarb sich Wehler aber vor allem mit seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“, deren erster Band 1987 erschien. Souverän behandelte er in den ersten vier Bänden im Längsschnitt historische Entwicklungen seit 1700. Weit weniger glückte ihm der fünfte Band, in dem er die DDR nicht analysierte, sondern nur verdammte, während er von der Bundesrepublik ein streckenweise märchenhaft positives Bild zeichnete. Mit Max Weber kennzeichnete er die Herrschaftsstrukturen in der DDR als „Sultanismus“, was auch bei westdeutschen Kollegen auf Unverständnis stieß.
Unvergessen bleibt Wehlers Eingreifen in den Historikerstreit von 1986, als er mit Jürgen Habermas entschieden gegen die Relativierung der Verbrechen des Hitlerregimes eintrat; die Thesen von Ernst Nolte nannte er „durch und durch doktrinär“. Auch in der Goldhagen-Debatte stand Wehler nicht abseits; er widersprach dem US-amerikanischen Soziologen, der von einem eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen sprach. Ebenso verlief die Debatte über den „Bombenterror“ der Alliierten gegen Deutschland nicht ohne Wehlers Intervention. Und vor zehn Jahren überraschte er mit seinem Bild vom zweiten „Dreißigjährigen Krieg“ über die Epoche 1914 bis 1945. Denn die Erfahrung, der Verlauf und der Ausgang des ersten totalen Krieges hätten den zweiten in hohem Maße vorgeprägt.
Seine Lust an öffentlichen Kommentaren und an Polemik beschränkte sich nicht auf seine Wissenschaftsdisziplin. So schaltete sich Wehler mehrfach in Debatten zur Schulpolitik ein, zu Migration und Integration sowie über die Krise der Europäischen Union. Von seiner sozialen Sensibilität und Sorge über zunehmende, fatale Polarisierung zeugt auch sein zuletzt erschienenes Buch „Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland“ (2013). Ähnliches ist wohl von seinem im Herbst, nun posthum, auf den Buchmarkt gelangenden Werk „Die Deutschen und der Kapitalismus“ zu erwarten.
Wehler war ein überaus angriffs- und streitlustiger Kollege, provokant und dadurch erkenntnisfördernd. Selbst wenn er, oder gerade weil er mitunter über das Ziel hinausschoss, war er ein wichtiger Impulsgeber für neues Nachdenken. Immer wieder forderte er ein Überprüfen und Infragestellen von vermeintlichen Gewissheiten.
Dankenswerterweise hat sich der junge Wehler wider seine leidenschaftliche Begeisterung für den Sport, insbesondere für den Mittelstreckenlauf und den Handball, zugunsten einer wissenschaftlichen Laufbahn entschieden. Der einstige Spieler des VfL Gummersbach blieb trotz zahlreicher beruflicher und gesellschaftlicher Verpflichtungen seinem Verein lebenslänglich treu. Nicht nur diesem sowie natürlich vor allem seiner Frau und seinen drei Kindern wird Hans-Ulrich Wehler fehlen. Seine Leser, Schüler und Kollegen, auch seine zahlreichen Widersacher, werden den am 5. Juli 82-jährig verstorbenen Wissenschaftler vermissen.
Schlagwörter: Hans-Ulrich Wehler, Historiographie, Mario Keßler