17. Jahrgang | Sonderausgabe | 28. Juli 2014

Gemeinsam gelebte Zeit

von Wolfgang Brauer

Sechzig Jahre waren sie miteinander verheiratet. Das schaffen nicht mehr viele. Eine Ehe mit Höhen und Tiefen wie die vieler anderer auch. Mit den Höhepunkten, wie sie die allermeisten Menschen erleben dürfen, aber auch mit „verbrannter Milch und Langeweile“, wie Kurt Tucholsky spottete. Das wäre alles nicht besonders aufhebenswert, wenn es sich nicht um eine Schriftstellerehe handeln würde, die auch und gerade als Arbeitsgemeinschaft funktionierte, als „Lebensmodell der anderen Art“, wie die Autorin der hier wärmstens empfohlenen Biographie diese über Jahrzehnte intensiv gelebte Zweisamkeit beschreibt.
Die Autorin heißt Sonja Hilzinger, und sie ist eine Generation jünger als ihre Protagonisten. Das sind wiederum keine Geringeren als Christa und Gerhard Wolf. Beide prägten die Literaturentwicklung in der DDR nachhaltig. Wenn endlich einmal die Ost-West-Scheuklappen endgültig fallen, werden unvoreingenommene Menschen feststellen: Beide prägten auch nachhaltig die deutschsprachige Literatur über die Grenzen des Nicht-Gebildes, für das es immer noch den irgendwie kolonial klingenden Begriff „neue Bundesländer“ gibt – mindestens seit Mitte der 1960er Jahre. Christa Wolfs „Der geteilte Himmel“ (1963) wurde auch im Westen in den Schulen gelesen. „Kassandra“ (1983) machte in beiden deutschen Staaten Furore – und das nicht nur wegen der in der DDR mit dümmlichen Zensurschnitten erschienenen Ausgabe bei Aufbau. Übrigens war es leichter, an ein Typoskript der „gestrichenen Stellen“ zu gelangen, als einen Band im Buchhandel zu ergattern. Hilzinger weist darauf hin, dass Christa Wolf zu den wenigen deutschen Autorinnen und Autoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählte, die in „Nobelpreisnähe“ gerieten. Das Los, wenn man das denn so bezeichnen darf, den Preis in den Zeiten des Kalten Krieges nicht erhalten zu haben, teilt sie allerdings mit solchen Autoren von Weltrang wie Tschingis Aitmatow und einigen anderen.
Sonja Hilzinger ist als Biografin der Wolfs ein Glücksfall: Diese Autorin ist in hohem Maße sachkundig. Geschuldet ist dies einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem Werk Christa Wolfs, sie gab bei Suhrkamp eine zwölfbändige Werkausgabe heraus, und hatte über lange Zeit gute persönliche Kontakte zum Ehepaar Wolf. Geschuldet ist die Qualität ihrer Arbeit aber auch einer Unvoreingenommenheit in der Autorensicht ohne jeden Versuch, ideologische Scheuklappen anzulegen und quasi vom Feldherrenhügel der Privatdozentin der Mainzer Universität den Daumen wechselweise nach oben oder unten zu senken. Es macht Freude, Sonja Hilzinger auf ihren Erkundungsgängen durch das Leben und das Werk der Wolfs zu begleiten. Bei ersterem hat sie genügend Respekt vor der Persönlichkeit und dem Lebensumfeld beider, um nicht einem leider üblich gewordenen auflagenträchtigem Voyeurismus zu verfallen – dennoch spart sie auch die „verbrannte Milch“ nicht aus. Und bei der Betrachtung des Werkes verfällt sie weder in pauschale Lobhudelei, das umfangreiche Werk Christa Wolfs hat durchaus Höhen und Tiefen, noch übt sie sich in überlegen daherkommender Exegese, die mehr mit den Methoden der Forensik denn der dienenden Aufgabe an der Literatur, die gute Germanisten seit den beiden Grimms immer auszeichnete, zu tun hat. Hilzinger liebt die Texte ihrer Protagonisten – und es ist eine gute Erfahrung, dies zu spüren.
Was mich besonders berührte: In dieser Doppelbiographie tritt Gerhard Wolf aus dem Schatten seiner so stark erscheinenden Frau – wie zerbrechlich Christa Wolf tatsächlich war, kann man bei Sonja Hilzinger nachlesen –, nur wenige wissen jedoch um seine enormen Verdienste um die Pflege der deutschen Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts. Die vergleichsweise an Seitenzahl schmalen Bücher über Johannes Bobrowski („Beschreibung eines Zimmers“, 1971 mit berührenden Fotos von Roger Melis) und „Der arme Hölderlin“ (1972) öffneten so ganz andere Zugänge zur Literatur, als die tradierten Methoden der Literaturinterpretation – egal ob „marxistisch“ oder „bürgerlich“ – bislang zuzulassen schienen. Wolfs Hölderlin-Band erschien übrigens einige Jahre bevor Pierre Bertaux und Peter Härtling ihre viel diskutierten Bücher vorlegten. Und nur wenige wissen, wie wichtig Gerhard Wolf für die Entwicklung von Autoren wie Volker Braun, Karl Mickel, Rainer und Sarah Kirsch war. Noch weniger bekannt sein dürften seine Bemühungen um die zum Ende der DDR ganz jungen wie Bert Papenfuß, Gabriele Kachold, Durs Grünbein und viele andere mehr.
Dass die Autorin eine Ehrenrettung des von den meisten nur noch mit dem Gedicht „Die Partei“ erinnerten Louis Fürnberg vornimmt, sei nur am Rande erwähnt. Gleiches gilt für die sehr ambivalente Beziehung Christa Wolfs zu der von ihr hochverehrten Anna Seghers – über die auch Sonja Hilzinger eine lesenswerte Biographie vorgelegt hat. Und immer wieder Georg Maurer: Sonja Hilzinger legt Schicht um Schicht eine inzwischen in die Vergessenheit abzugleiten drohende Literaturlandschaft wieder frei. Literaturlandschaft? Nein, das greift zu kurz. Kulturlandschaft muss man sagen.
Da sind die Künstler der Gruppe „Clara Mosch“ im Karl-Marx-Städter Raum gewesen, von verbissenen Kulturfunktionären erbittert bekämpft. Der Annaberger Carlfriedrich Claus zum Beispiel, dessen „Sprachblättern“ Gerhard Wolf eine ganz besondere Zuwendung widmete. Da ist der bezaubernd-tiefgründige Albert Ebert aus Halle. Da ist der große Regisseur Konrad Wolf. Da sind die entschieden älteren Freunde Änne und Friedrich Schlotterbeck aus Groß Glienicke, da sind Kurt und Jeanne Stern aus Berlin…
Christa und Gerhard Wolf teilten durch den Zufall des Geburtsjahrganges das Kalendarium ihrer Biographie mit dem des Staates DDR. Sie waren nicht nur Teilnehmer am kulturellen Auf und Ab dieses Landes – sie gestalteten es – auf unterschiedliche Weise mit. Bei Christa Wolf ging das bis zur ZK-Kandidatur. Das berüchtigte 11. Plenum beendete dieses Kapitel ihrer Biografie, und durchaus wichtigen Funktionen im Kulturbetrieb des Landes. Gerhard Wolf war immer, auch in einer gleichsam solitären Rolle, fest im literarischen Leben eingebunden. Allerdings, Sonja Hilzinger beschreibt dies sehr genau, setzte bei ihm schon entschieden früher die Ernüchterung über die Chancen – und die Sinnhaltigkeit! – des sozialistischen Experimentes ein. Seine Entfremdung vom SED-System war sicher spätestens mit der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ irreversibel geworden. Die Frage „Bleiben oder Gehen?“ stand für Christa Wolf wohl erstmals im Zusammenhang mit der Biermann-Ausbürgerung sehr ernsthaft im Raume. Plötzlich wurde die Rita des „Geteilten Himmels“ wieder zu einer sehr realen Figur. Beide blieben. Die Gründe teilt die Autorin mit. Interessant ist in diesem Zusammenhang die starke Hinwendung beider zur Romantik – angemerkt sei nur, dass mir Hilzinger hier etwas zu kurz greift, wenn sie dieses sozusagen ursächlich als Flucht nicht über die Mauer, so aber doch in andere literarische Welten interpretiert. Spätestens mit dem Bewusstwerden eines so anderen eigenen Schreibansatzes, den sie selbst als „subjektive Authentizität“ definierte, war die Rückbesinnung Christa Wolfs auf die deutsche Romantik geradezu zwangsläufig. Ihre große Mentorin Anna Seghers griff gegen Ende ihres Schreiberinnen-Lebens auch nicht zufällig wieder auf E.T.A. Hoffmann und Nikolai Gogol zurück. Große Literatur entsteht immer in der Auseinandersetzung mit den Vorgängern. Und es liegt in der Natur der Sache, dass für Autoren, die sich selber die Schädel an den Verhältnissen wundschlagen, die Kollegen vergangener Jahrhunderte die interessanteren sind, die sich in ähnlicher Lage befanden. Gut bestallte Professoren und enge Freunde regierender Fürsten sind dies eher nicht.
Natürlich gibt es einen inneren Faden, der unzerreißbar zwischen Rita, Christa T., der Günderrode, Kassandra und schlussendlich Medea gespannt ist. Natürlich gibt es dieses Band, das Louis Fürnberg mit der Annäherung an Johannes Bobrowski und den armen Hölderlin im Schaffen Gerhard Wolfs verbindet. Sonja Hilzinger spürt dem nach und schreibt im Gewande dieser Doppelbiographie eine Kulturgeschichte der DDR, die es in sich hat.
Die Jahre nach 1990 kommen vergleichsweise kurz weg. Aber möglicherweise ist für die von ihr praktizierte, streckenweise sehr persönlich determinierte Annäherung an die Wolfs das eigene Erleben der Autorin noch zu nah. Das hat auch mit dem erwähnten Respekt vor ihren Protagonisten zu tun: „Wir sind mit den Jahrzehnten ineinander gewachsen“, schreibt Christa Wolf in ihrer letzten Erzählung („August“, 2011) über das Verhältnis zu ihrem Mann. Für eine Biografin machen sich da Tabu-Zonen auf. Ich finde es gut, dass Sonja Hilzinger diese respektiert. Und ihr Buch macht Lust auf die Bücher der Wolfs.

Sonja Hilzinger: Christa und Gerhard Wolf. Gemeinsam gelebte Zeit, verlag für berlin-brandenburg, Berlin 2014, 296 Seiten, 19,99 Euro.