von Christian Schlüter
„Jetzt reicht’s auch einmal.“ Bundespräsident Joachim Gauck hat endlich das Wort ergriffen. Ihm ist durchaus zuzustimmen. Aber warum reicht es erst jetzt? Es hätte doch nicht erst des Angriffs US-amerikanischer Geheimdienste auf den NSA-Untersuchungssauschuss bedurft, also auf eine Institution des Deutschen Bundestages und damit auf den Souverän unserer Demokratie. Die Überwachung der angelsächsischen Super-Stasi ist ohnehin schon total, das heißt maßlos. Dass ihr nun ein BND-Mitarbeiter behilflich gewesen sein soll, mit dem Angriff auf das Parlament auch den normativen Kern, ja den Inbegriff, das Symbol eines jeden demokratischen Gemeinwesens zu treffen, ist bloß noch eine Bestätigung, das i-Tüpfelchen: Die Geheimdienste bewegen sich nicht nur in außerdemokratischen Sphären, sondern gehen dezidiert demokratiefeindlich vor.
Seit den Enthüllungen von Edward Snowden wissen wir das. Aber die Bundesregierung tut – fast nichts. Ihre fortgesetzte Untätigkeit wird zum Menetekel der Selbstabschaffung unserer Demokratie. Umso dringlicher stellt sich die Frage, was aus dem Staatsversagens folgt. Dazu drei Beobachtungen und drei Denkanstöße.
1. Sprachakrobaten in regierungsamtlicher Mission haben große Anstrengungen unternommen, das Verhältnis zwischen Deutschland und den USA unbeirrt von allen spionagebedingten Verwerfungen als Freundschaft zu bezeichnen. Da war von einer Trübung der Freundschaft die Rede, von Enttäuschungen und Belastungen, von Tiefpunkten und Abkühlungen. Eine deutlichere, zumindest rhetorische Absetzung – weit entfernt von allen weitergehenden, eher handfesten und damit wirklich folgenreichen Distanzierungen – wollte man nicht riskieren. Denn sonst wäre ja auch das transatlantische Bündnis auf die mit ihm verbundenen Angriffe gegen unsere Verfassung, gegen Freiheitsrechte und Menschenwürde kritisch zu befragen. Dieses Bündnis scheint wie ein eherner Selbstzweck keinen äußeren Kriterien mehr unterworfen sein.
2. Die offenkundige Verkehrung – nicht mehr unsere Grundrechte, sondern die Bündnistreue gilt absolut – ist erstaunlich, erschreckend und irgendwann auch unumkehrbar. Im Namen des transatlantischen Bündnisses, das nicht nur eine Gemeinschaft freiheitlicher Werte ist, sondern vor allem ein geostrategischer Interessenverband, also ein Machtbündnis – im Namen dieses Bündnisses werden unsere Bürgerrechte geopfert. Erfahrene Transatlantiker mögen einwenden, dass ohne eine wehrhafte Machtbasis kein Schutzraum für unsere demokratischen Errungenschaften bestehen kann. Das ist ein richtiger Einwand, verkennt allerdings, dass eine zunehmend erodierende Wertebasis auch nicht mehr schützenswert ist: Wer möchte denn mit welchen Gründen ein entleertes Versprechen, also eine Lüge noch verteidigen?
3. Der politische Totalausfall unserer Regierung an eben dieser Stelle hat fatale Konsequenzen: Wir, die Bürger, werden nicht nur mit einem übermächtigen Geheimdienst alleingelassen, sondern auch daran gewöhnt, dass uns nicht einmal unsere Rechte noch gehören, weil sie jederzeit auf dem Altar höherer, der demokratischen Kontrolle entzogener Interessen geopfert werden können. Grundrechte werden zur Verhandlungssache – abhängig von politischen Konjunkturen. Das transatlantische Wertebündnis, die Gemeinschaft der Demokratien scheint sich nach dem Vorbild von Disney World oder Potemkin’scher Dörfer zu verändern – und mutiert zu einem einzigen großen Als-ob. Doch bleiben wir sachlich und stellen einfach fest: Eine bürgerliches Gemeinwesen ohne garantierte Bürgerrechte ist keins.
Vor diesem Hintergrund ergeben sich drei Vorschläge, was jetzt zu tun ist.
1. Einführung der Feindschaft als politische Kategorie. Wer wegen der sogenannten Wertegemeinschaft vor der Konsequenz zurückschreckt, das transatlantische Verhältnis in toto als Feindschaft zu beschreiben, der wird der Klarheit wegen zumindest von einer deutlich feindlichen Dimension innerhalb dieser Freundschaft sprechen müssen.
2. Bundespräsident Joachim Gauck ans Mikrofon. Unlängst hielt der Freiheitspathetiker Gauck den Türken ihre Demokratiedefizite vor. Vollkommen zu Recht. Doch nun muss er für die Verteidigung unserer freiheitlichen Grundordnung das Wort ergreifen, ein „jetzt reicht’s“ reicht nicht aus – eine Ruck-Rede der Freiheit muss es schon sein.
3. Asyl für Edward Snowden in Deutschland. Wenn sich die Bundesregierung nicht länger von ihren „Freunden“ vorführen lassen will, dann muss sie mit einem deutlichen Signal auf ihrer Eigenständigkeit bestehen. Snowden wäre unsere Rache und vor allem ein wichtiger Zeuge bei der Aufklärung im NSA-Untersuchungsausschuss.
Aus: Berliner Zeitung, 06.07.2014. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Schlagwörter: Deutschland, Edward Snowden, Feindschaft, Freundschaft, NSA, Spionage, USA